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Anabolika-Missbrauch: Außer Kontrolle

Seine Muskelberge waren gewaltig. Er fühlte sich als King, doch bald hatte sich der Bodybuilder nicht mehr im Griff. Anabolika machten ihn aggressiv und lustlos. Die Freundin terrorisierte er, bis sie es nicht mehr aushielt und nach Hilfe suchte. Chronologie eines Abstiegs.

Den Rotwein verschütteten sie wie Essig über einen Salat. Er trocknete ein, der Teppich war mit wirren roten Zickzack-Linien durchzogen. Immerhin, er lag noch da, der Teppich. Die restlichen Möbel waren weg, einfach abtransportiert. Die leere Wohnung sah aus, als hätte sich eine wild gewordene Rockband ausgetobt. Käse- und Wurstscheiben lagen über den Boden verstreut, dazwischen Bananen, Gurken, Tomaten. In der Küche klebten Joghurt, Senf und Butter an den Wänden und an der Kühlschranktür, der Kühlschrank und die Lebensmittel-Regale waren leergefegt.

Hier war mal das Zuhause von Giorgios Stavros (Name geändert) und Michaela Caic, eine kuschelige Zwei-Zimmerwohnung am Ende eines Neubaublocks in Hannover. Jetzt saß die 22-Jährige heulend allein auf dem Boden. Es war Abend, sie war von der Arbeit zurückgekommen, sie wurde empfangen von einem Gruß ihres Freundes. „So etwas passiert, wenn man mich betrügt“, das war seine Botschaft. Er war zu seinen Eltern gezogen, hasserfüllt, getrieben von dem Gedanken, seine Freundin habe mit ihrem Nachbarn ein Verhältnis. Dass der sie von der gemeinsamen Arbeitsstelle nur nach Hause fuhr, glaubte Stavros nicht.

Die Drecksarbeit hatte der 26-Jährige allerdings seinen Kumpels überlassen müssen, die hatten die Möbel weggeräumt und den Wein ausgekippt. Stavros lehnte nur gegen einen Türrahmen und schaute zu. Er hatte keine Kraft, selber mitzumischen. Er hatte nicht mal die Kraft, Tüten zwei Treppen hochzutragen. Anabolika, das klassische Dopingmittel der Bodybuilder, hatte seinen Körper ausgelaugt.

Er hechelte nach Atem wie ein Hund in der Hitze, er schwitzte, wenn er bloß auf einem Stuhl saß, er konnte kaum schlafen. Und er wurde aggressiv, bekam unkontrollierbare Ausbrüche. Giorgios Stavros reagierte wie viele Bodybuilder, die Anabolika schlucken, damit sie Gewichte stemmen können, bis ihre Oberarme grotesk dick und ihre Oberschenkel stämmig wie Elefantenbeine sind. Wer Anabolika schluckt, pumpt sich vom männlichen Sexualhormon Testosteron abgeleitete Stoffe in den Körper, die den Muskelaufbau fördern. Bodybuilder posen und fühlen sich wie Kings. In Wirklichkeit sind sie Opfer der Mästerei. Und sie erzeugen weitere Opfer. Menschen wie Michaela Caic. Freundinnen und Frauen trifft es oft am stärksten, sie sind der erste Blitzableiter für die Aggressionen.

Werner Hübner hat sie in seiner Praxis in Köln, die Bodybuilder. „Zu mir“, sagt er, „kommen sie, wenn sie merken, sie kommen nicht mehr klar mit den Folgen des Anabolika.“ Hübner hat eine einfühlsame Stimme, er setzt sie dosiert für seine Therapien ein. Seit sieben Jahren hat sich der 60-jährige Psychotherapeut auf die Behandlung von dopenden Bodybuildern konzentriert, die über sich selber erschrecken. Aktuell hat er sieben Fälle, jährlich sind es im Schnitt 25. „Der Körper nimmt Rache“, sagt Hübner. „Die Aggressionen sind die Folgen der Hauptsymptome des Dopingkonsums, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Angstattacken. Die merken, dass sie ihren Körper nicht mehr kontrollieren können, das macht sie hilflos. Und den Druck lassen viele mit Aggressionen ab.“

Michaela Caic hat lange, schwarze Haare, die im Sonnenlicht seidig schimmern. Auch ihre Augen sind schwarz, man sieht die südländische Abstammung. Die Mutter ist Kroatin, der Vater Serbe. Sie sitzt auf einem Sessel in ihrem Wohnzimmer, an den Wänden hängen Bilder der Mutter Gottes. Die Zerstörungsorgie liegt drei Jahre zurück, Stavros ist längst ihr Exfreund, sie wohnt nach wie vor in diesem Block in Hannover. Zur Haustür sind es zwei Treppenabsätze. Die 24-Jährige deutet mit dem Zeigefinger zur Decke. „Die andere Wohnung liegt im fünften Stock“, sagt sie. Die Wohnung mit den Rotweinflecken auf dem Teppich. Das frühere Zuhause von ihr und Stavros.

Sie haben noch Kontakt, sie sind jetzt Freunde. „Mehr geht nicht“, sagt sie. Fünf Jahre lang hatte er sie als Freundin in seine Welt gezogen, eine Welt, die sie nicht kannte, die nach den Regeln funktioniert, die der Anabolikamissbrauch diktiert. Sie hatte ihn geliebt, trotz allem, ihn sogar wieder aufgenommen, nachdem er die Wohnung hatte verwüsten lassen. Warum? Da presst sie die Lippen zusammen und windet sich im Sessel. Irgendwann murmelt sie: „Ich weiß es nicht.“ Sie hat auch auf eine andere Frage keine Antwort: Warum lässt man sich das alles gefallen?

Als sie sich kennenlernten, war er 24, der Partykönig von Hannover, immer einen Schwarm Kumpel um sich. Sie war 20, ein ruhiger Typ, lieber auf dem Sofa als in der Disco, sie arbeitete bei einem Freund von ihm. So lernten sie sich kennen. Er gab den coolen Typen, aber er hatte schon nicht mehr die Muskelberge, die er mit Anabolika geformt hatte. Er konsumierte Anabolika wie ein Ertrinkender Wasser. Wenn andere eine Pille einwarfen, schluckte er fünf. Er nahm 15 Kilogramm zu, er wurde reizbar und fühlte sich immer kraftloser. Irgendwann konnte er keine Gewichte mehr stemmen.

Michaela Caic wusste das alles nicht, sie hatte noch nie von Anabolika gehört. Aber nach einem Monat spürte sie, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Freund. Er klagte über Atemnot, den Job als Lackierer hatte er aufgegeben, im Betrieb gab man ihm eine weniger anstrengende Arbeit. Nach drei Monaten gestand er ihr, dass er Anabolika geschluckt hatte. Und dann schwärmte er von den Frauen, die sich ihm früher anbiederten, angezogen von seinen Muskelbergen. Ein Macho, der den Kick spürte. Aber er spürte noch etwas anderes. Etwas, das ihn „schockierte“, so Caic. Er hatte seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle.

Nun war sein Problem auch das seiner Freundin. Die hatte sich unter einer Beziehung etwas anderes vorgestellt als einen Freund, der aggressiv reagierte, lustlos war und ohne erkennbaren Anlass kritisierte. „Er hat mir mit Worten sehr wehgetan.“ Aber gleichzeitig lebte sie mit dem Gefühl, dass alles nicht so gemeint war. „Sein trauriger Blick hat etwas anderes gesagt als seine Worte. Der signalisierte: ,Ich brauche Hilfe, kann es aber nicht sagen.’“

Therapeut Werner Hübner kennt solche Reaktionen. „Die fühlen sich wie fremdgesteuert.“ Wenn die Bodybuilder zuschlagen, betrachteten sie sich, als sähen sie einen Fremden im Kino. „Das ist nicht meine Faust, die da ausfährt.“

Dieser Hundeblick, diese Mitteilung, die dahintersteckt, kettete Michaela Caic an ihren Freund, der immer unberechenbarer wurde. Sie sah einen kranken Menschen, dem sie helfen wollte. Deshalb zogen sie zusammen, sie wollte ihn besser verstehen, seine Launen besser einschätzen können. Nur die Grenzen, die ihr Freund gebraucht hätte, die setzte sie nicht. Stattdessen klammerte sie sich an das Bild des hilfsbedürftigen Menschen. „Hätte ich ernst genommen, was er gesagt hat, würde ich heute noch wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa sitzen.“

Er schlug sie nicht, aber quälte sie mit Worten. Die Beziehung hatte sich in ein Abhängigkeitsverhältnis verwandelt, mit einem antriebslosen Pascha und einer überforderten Frau, die schon als Lagerarbeiterin mehr arbeitete als andere. Es war ein Alltag, in dem Caic „stets einen Ausraster erwartete“. Sie kaufte ein, besorgte seine Medikamente, mit Rezepten auf ihren Namen, sie setzte ihm die Spritzen. Sein Körper war ja völlig verspannt.

Doch nach der verwüsteten Wohnung hatte selbst Michaela Caic genug. Sie nahm ihn zwar nach zwei Wochen wieder auf, aber sie suchte im Internet nach Hilfe. Schnell stieß sie auf Jörg Börjesson und seine Homepage „dopingfrei.de“. Auf Börjesson stößt man zwangsläufig, wenn es um Anabolikamissbrauch geht.

Börjesson hat trotz seiner 41 Jahre noch breite Schultern und einen beeindruckenden Oberkörper. Unter seinem weinroten Flanellhemd sieht man das Resultat unzähliger Stunden im Kraftraum. Aber er ist schmal, wenn man neben ihn die Bilder legt, auf denen er mit Bodybuilder-Posen in die Kamera lächelt. Damals war er Mitte 20 und ein „wandelnder Giftschrank“, vollgestopft mit Anabolika. Erst als ihm Brüste wuchsen und sein dreijähriger Sohn erschrocken fragte: „Papa, bist du eine Frau?“, da hörte er entsetzt auf zu dopen. Stattdessen ließ er sich 400 Gramm Gewebewucherungen entfernen und reist seither durch Fernsehstudios, Schulen und Jugendzentren, um über Doping aufzuklären. Und er schrieb das Buch „Muskelmacher – Mein gefährliches Spiel mit dem Körper“.

Börjesson hat seine schütteren Haare nach hinten gekämmt. Er sitzt in einem Café, vor sich auf dem Tisch einen Apfelsaft. Die Finger sind immer noch so kräftig, dass das Glas in ihnen fast verschwindet. Als Michaela Caic anrief, ließ er sie lange erzählen. Er hört immer zu, er kennt diese Geschichten. Mit den Muskeln wächst das Selbstwertgefühl, aber auch der Druck, die überbordende Kraft abzulassen. „Die Jugendlichen gehen dann mit ihrem inneren Druck auf die Straße, das sind menschliche Zeitbomben“, sagt Börjesson. „Wenn die ernst machen, ist das der Wahnsinn.“

Er zieht E-Mails aus seiner Tasche, Hilferufe von Opfern. Von Dopern, ihren Freundinnen, ihren Frauen, von besorgten Eltern. „Sophie“ schrieb, dass sie bei ihrem Freund „kleine Ampullen gefunden“ hatte, auf denen „irgendetwas mit Steroid draufstand“. Steroide werden als Dopingmittel eingesetzt. Sophie wollte von ihrem Freund wissen, was das ist. „Da hat er mich erst angelogen, dann wurde er sehr wild und schlug mich.“ Bettina, Freundin eines Bodybuilders, schrieb: „Er ist ab und zu total aggressiv. Was mich total nervt.“ Eine junge Frau schluchzte am Telefon erst mal, bevor sie reden konnte. Sie sei 17, sie habe Schluss gemacht mit ihrem Freund. Der Ex-Freund sei Bodybuilder, 20 Jahre alt, Anabolikakonsument. Er sei immer aggressiver geworden, irgendwann habe er sie geschlagen. Auch ein 18-Jähriger rief an, ein verzweifelter Doper. „Ich bekomme meine Aggressionen nicht in den Griff“, sagte er. „Auf dem Schulhof bin ich der King.“ Aber jetzt wolle er weg vom Doping, er wisse nur nicht wie.

Börjesson vermittelt viele von ihnen zu Hübner in die Kölner Praxis. Ein halbes Jahr, sagt der Therapeut, dauert es, bis sich etwas ändert. Auch Michaela Caic und ihr Freund waren bei ihm. Über fünf Stunden zog sich die Sitzung hin, in dieser Zeit benötigte Stavros fünf längere Pausen. Mehr als 20 Minuten lang konnte er sich nicht konzentrieren. Aber diese Pausen sind für Hübner auch der Beweis, „dass ich ihn erreicht habe“. Stavros hatte konzentriert zugehört, deshalb hatte er bald keine Kraft mehr.

Es blieb bei einem Treffen. Die Nachbereitung fand am Telefon oder per E-Mail statt. Am Anfang mit ihm, zum Schluss nur noch mit ihr. Es änderte sich nichts. Bis zu dem Tag, an dem sie endgültig keine Kraft mehr hatte. Bis sie ihm mitteilte: „Ich trenne mich.“ Sie war emotional ausgebrannt und körperlich ausgelaugt. Vier Wochen lang hatte sie sich krank zur Arbeit geschleppt, sie hatte gehofft, dass ihr Freund wenigstens Hausarbeit erledigen würde. Er hatte keinen Finger gerührt. Erst der Satz „Ich trenne mich“ riss ihn aus der Lethargie. Aber seine Tränen und sein Flehen erreichten sie nicht mehr.

Irgendwann begann Michaela Caic eine neue Beziehung. Die dauerte so lange, bis sie spürte, dass sie nicht beziehungswillig war. Drei Monate. Seither lebt sie allein.

Giorgios Stavros bereut vieles. Jetzt, im Rückblick. Seine frühere Freundin kommentiert es mit mildem Lächeln. Seine Emotionen lösen nichts mehr aus. Mit einer Handbewegung deutet Michaela Caic zur Wand, zum Bild einer Frau, die genauso milde lächelt. „Ich bin sehr gläubig“, sagt sie. „Ich habe oft zur Mutter Gottes gebetet. Sonst hätte ich das alles nicht durchgehalten.“

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