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Athen: Wer, wenn nicht wir

Athen ein Jahr nach der großen Krise: Sparprogramme, Streiks, Demonstrationen. Für junge Griechen müsste das eine bedrückende Zeit sein – doch in einigen Vierteln herrscht Aufbruchstimmung.

Veroniki Haritatou dreht sich eine Zigarette. Das ist billiger nach der Erhöhung der Tabaksteuer – und beruhigend. „Wie slow food“, sagt die 28-Jährige, schnappt sich vom Nebentisch ein Feuerzeug, zündet die Zigarette an und erzählt: Zum Beispiel, wie immer noch Menschen in Athen versuchen, die Hand aufzuhalten, neulich der Elektriker, der nach einem Kurzschluss die Sicherung auswechseln sollte und nur unter der Bedingung kam, dass sie ihm zusätzlich 50 Euro Schwarzgeld auf die Hand gebe.

Sie beugt den Kopf mit dem dichten Zopf vor, nickt leicht und sagt: „Aber ich will nicht jammern, denn ich kann das selbst nicht mehr hören!“ Sie hätte jedes Recht zu klagen, als junge Frau in einem Land, das nur sparen, sparen, sparen soll. Solange, bis das Leben auf das Notwendige geschrumpft ist. Trotzdem sagt Veroniki, die Anzeigenverkäuferin für das Stadtmagazin „Athen’s Voice“: „Ich genieße die Krise.“

Die Krise, sie traf das Land vor mehr als einem Jahr. Im Februar 2010 stellte die Europäische Union den griechischen Staat unter ihre Finanzaufsicht. Ministerpräsident Giorgos Papandreou musste öffentlich eingestehen, dass das Land die rund 272 Milliarden Euro Schulden nicht begleichen könne. Die Verbindlichkeiten entsprachen 113 Prozent der tatsächlich erbrachten Wirtschaftsleistung. Die Regierung verabschiedete ein Sparpaket: Die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden gekürzt, die Renten eingefroren und die Steuern erhöht. Die Mehrwertsteuer liegt nun bei 23 Prozent.

Die Griechen wehren sich. Ende Februar kam es wieder zu schweren Ausschreitungen, nachdem 35 000 Menschen vor dem Parlament gegen die rigiden Sparprogramme demonstriert hatten. „Den Preis der Krise soll das Großkapital zahlen“, stand auf den Transparenten, Autonome warfen Brandflaschen, die Polizei setzte Tränengas ein, der Syntagma-Platz war zeitweilig komplett vom Rauch überzogen, und die Demonstranten flüchteten in die Seitenstraßen.

Die Zukunft steht auf dem Spiel. Wie viele Jahre muss das ganze Land verzichten – auf Urlaub, ein neues Auto, vielleicht das eigene Haus? Und wie leben die Jungen der Hauptstadt mit dieser Zäsur, die doch ihre Lebensplanung völlig auf den Kopf stellen muss? Kann man in so einer Situation Hoffnung haben?

Veroniki raucht die Selbstgedrehte und sagt: Ja. Das klingt nach Irrsinn, aber die jungen Menschen Athens, besonders die Kreativen in den Vierteln Psirri und Gazi, sie sehnen sich nach einer Neuordnung im Land. Sie haben plötzlich das Gefühl, dass die Zukunft nicht bereits vorgeschrieben ist, dass sie diese mitgestalten können. Sie fordern das Ende von Korruption und Steuerhinterziehung, den Anschluss an das westliche Europa, das Veroniki die „zivilisierte Welt“ nennt. Es ist das Signal für einen neuen Gemeinsinn.

Die Generation von Veroniki, die Berufsanfänger um die 30, sie ist nach wie vor erlebnishungrig – und überschwemmt am Freitagabend das Café Gazi College. Mit Glück hat Veroniki einen Platz auf der Terrasse bekommen, wo sie rauchen kann. Gazi ist das Ausgehviertel Athens, es war zuerst eine Siedlung für die Arbeiter des nahen Gaswerks, dann entdeckten die Schwulen den Platz und seit einigen Jahren zieht es ganz Athen hierher. Es ist eine Blase in der Krise. Veroniki erzählt, dass es trotz Krise so viele Bars am Platz gebe, dass die Stadt keine Schanklizenzen mehr vergibt. Das Bier kostet fünf Euro, ein Cocktail sieben. Die lange U-Bahn-Rolltreppe spuckt ununterbrochen Vergnügungssuchende auf den Gazi-Platz aus, einige bleiben in Gruppen am Bordstein stehen, andere gehen hinein in das Gazi College oder das Soho, bestellen sich ein Getränk und nippen betont langsam daran.

Denn das Geld ist knapp. Auch bei Veroniki. „Wenn ich im Supermarkt einkaufe, nehme ich nur noch zwei Äpfel, Bohnen, Öl, Wasser – das muss für zwei Tage reichen“, sagt Veroniki. Einmal die Woche eine Martini-Night mit Freunden, das ist ihr Luxus, vielleicht eine Nacht am Gazi-Platz wie heute Abend. Ansonsten trifft sie sich privat bei Freunden und sie kochen zusammen.

Etwa 1000 Euro haben ihre Freunde im Monat, glaubt sie. „700 vom Arbeitsvertrag, der Rest von den Eltern, das ist normal.“ In Griechenland wird der familiäre Zusammenhalt großgeschrieben. Leben die Kinder in Armut, fällt die Schande auf die Eltern zurück. Jede Familie, erklärt Veroniki, hat noch eine Wohnung, ein Haus, ein Stück Land. Die Reserven sind da, sagt sie, für verarmt hält sie niemanden. „Wir schaffen das.“ Und wenn wirklich nichts passiert, will sie nach London.

Wenn man Gazi verlässt und fünf Minuten in die weniger beleuchtete Gegend geht, Richtung Omnia, dann erreicht man die Artemisou-Straße. Brachflächen grenzen an teils neue Wohnbungalows mit weißen Mauern und Innenhof. Orangenbäume säumen die Straßen. Lysandros Falireas sitzt im einstöckigen Flachbau seines Halbbruders Orestes. „Ich habe schon von Bekannten gehört, die wegen eines Jobs nach Istanbul gehen“, erzählt der 28-Jährige. „In der Türkei floriert die Wirtschaft doch.“ Er ist mit dem fünf Jahre älteren Orestes Musiker in der Band Imam Baldi. Sie mischen griechische Folklore mit modernen Beats.

Die jungen Männer hocken im geräumigen Apartment von Orestes, das ein Onkel vor einigen Jahren gebaut hat. Eine offene Küchenzeile hat darin Platz, ein langer Tisch mit zwei einfachen Holzbänken, ein Schneideplatz am Computer, und in einer Ecke hinter dem Paravent das Bett von Orestes. Die Musiker haben die ganze Nacht an ihrer zweiten Platte gearbeitet, im Kellerstudio unter der Wohnung. Ihre erste hat sich 5000 Mal verkauft, „das ist ganz vernünftig für eine junge Band“, meint Lysandros.

Ihr Geld bekommen sie jedoch über Konzerte, am Wochenende treten sie in Clubs mit 200 Zuschauern auf, vielleicht im Tora oder im Gate 4. „Die Clubbesitzer versuchen, uns um 200 Euro zu drücken“, erzählt der Jüngere. Und findet: „Das ist fair, wenn man die Situation bedenkt.“ Mit fünf Gastmusikern stehen sie auf der Bühne, bekommen nun zwischen 1500 und 2500 Euro pro Auftritt, die sie unter sich aufteilen.

„Wir müssen flexibel sein, sonst sind wir weg.“ Und flexibel zu sein, das haben sie gelernt. „Wenn ich zu einem Arzt gehe, kann es passieren, dass er mir eine ordentliche Quittung gibt, auf der ein höherer Betrag steht – oder er bar und ohne Rechnung weniger verlangt“, sagt Lysandros. Orestes erzählt: „Ich kann mich gut erinnern, dass es normal war, einem Chirurgen Geld zu geben, wenn eine Operation erfolgreich war.“ Nicht zu vergessen das berühmte Fakelaki, das Schmiergeld für Beamte. Oder wie Lysandros es ausdrückt: „Geld, um bestimmte Sachen voranzubringen.“ Den Hausbau, das Verlegen von Elektroleitungen und so weiter.

Ein Zeichen gegen die Klüngelei sehen sie in der Wahl des Athener Bürgermeisters im November vergangenen Jahres. Giorgos Kaminis, ein Mitte-Links-Politiker, gewann sie. „Zum ersten Mal hat das ein Kandidat geschafft, der nicht von den großen Parteien abgesegnet war“, sagt Lysandros – und will das als Hoffnung verstehen. Dass sich Athen nun verändern kann, dass es vorwärts geht.

Ihnen hat die Krise bisher keine Opfer abverlangt, sie wissen um ihre relativ privilegierte Lage. „Wir sind zum Glück Singles“, meint Orestes. „Aber für junge Familien mit Kindern ist es zurzeit schwierig.“ Die Freundin von Lysandros hat gerade eine Arbeit in der öffentlichen Verwaltung begonnen, sie bekommt bereits weniger Gehalt, als wenn sie vor einem Jahr angefangen hätte, zwischen 1000 und 1300 Euro.

„Wenigstens sind die Mieten nicht so hoch, man kann ein Zimmer für 300 Euro bekommen“, sagt Lysandros. Und: Die Mieten steigen nicht. Andere Preise fallen sogar. Zum Beispiel die für den Kaffee um die Ecke. „Ein Espresso hat bis zu vier Euro gekostet, jetzt bekomme ich ihn für 2,50 Euro“, sagt Lysandros, immer noch ein stolzer Preis für ein armes Land.

Grundsätzlich positiv schauen auch Stathis Mitropoulos, 32, und Thodoris Dimitropoulos, 34, in die Zukunft. Sie sind Grafikdesigner, einmal über die mehrspurige Peiraios-Straße hinüber, weg von den Drogendealern Omnias, hinein in das alte Arbeiterviertel Psirri. Die beiden haben mit einem Kompagnon vor kurzem ein Büro bezogen und nennen sich „Amateurboyz“. War das nicht eine blöde Idee mitten in der Krise? „Nein“, entgegnet Stathis. „Wir waren über 30, das war für uns genau der richtige Zeitpunkt.“ Sie haben die erste Etage einer leer stehenden Textilfabrik bezogen, sie geweißt, die Böden geschliffen, den kantigen Tisch von Thodoris’ Mutter hineingestellt – und alles sehr minimalistisch belassen.

Stathis kündigte seinen Festvertrag in einer Agentur. „Natürlich hatte ich auf einen Schlag nur noch die Hälfte des Geldes. Ich habe mein Auto verkauft, einen alten Hyundai XL. In den Urlaub fahre ich nur noch mit dem Zelt. Camping wird im Moment in Griechenland sehr populär.“ In seinem alten Büro arbeitet er nun Teilzeit, um die Einkommensverluste aufzufangen. Er vergleicht Preise, was er vorher kaum getan hat. „Im Supermarkt kaufe ich Tomaten in der Dose, weil das eines der billigsten Lebensmittel ist“, erzählt er. „Und meine Eltern bitte ich, Essensreste aufzuheben. Einmal pro Woche besuche ich sie und hole sie mir ab.“

„Ich habe bei einem Kunden die Preise gesenkt“, sagt Thodoris, dunkler Bart, kariertes Hemd. „Es ist eine Galerie, für die ich seit Jahren Einladungen entwerfe. Im Moment geht ihr Geschäft nicht so gut. Da erschien mir der vereinbarte Betrag einfach zu teuer.“ Das ist der neue Gemeinsinn, der durch Athen zieht. Kein Fakelaki, sondern solidarischer Preisnachlass. Dazu passt, dass große Superclubs schließen mussten und kein internationaler DJ mehr für Tausende Euro eingeflogen wird. Ein Star wie Grace Jones musste ihr Konzert absagen, weil zu wenige die teuren Tickets kaufen wollten.

Die Kreativen erleben eine gesellschaftliche Aufwertung. „Als ich zur Schule ging, wollte jeder Beamter werden“, erzählt Thodoris. „Wenn du etwas Künstlerisches machen wolltest, fragten dich die anderen, ob du irre bist. Beamter zu sein, das bedeutete sicheres Geld und gute Arbeitszeiten.“ Heute hat sich das Blatt gewendet. Die jungen Athener schauen, was man von den Künstlern lernen kann.

Zum Beispiel an einem Ort wie dem 6 Dogs, knapp fünf Minuten durch enge Gassen entfernt. Konstantinos Dagritzikos hat den Kunstraum mit großer Hinterhofbar eröffnet, auch vor einem Jahr. Der 28-Jährige hat zuvor in London gelebt, Kunst am Goldsmith College studiert, Ausstellungen kuratiert und ist für das 6 Dogs zurückgekehrt. Mit vier Freunden hat er es ins Leben gerufen, eine Mischung aus Ateliers, Galerie und Bar, die sehr an Berlin-Mitte in den 90er Jahren erinnert. Damals die Sinnsuche nach der Wende, heute die in der Krise.

Konstantinos ist das Zentrum der Bar, er trägt eine Lockenfrisur und eine weiße Plastikbrille. Es ist Sonntagabend, die Gäste sitzen im Hinterhof auf Hockern, ein großer Baum überschattet die Theke, eine Band spielt Reggae. „Wir haben von morgens zehn Uhr bis nachts um drei geöffnet“, sagt Konstantinos. Die Gäste trinken zwar weniger als früher, aber sie kommen. Auch um das Hausgetränk zu kosten: „The Warm Nice Liquor“ aus Birnenschnaps, Zimt und heißem Wasser. An Märzabenden, wenn die Temperatur abends von 19 auf zehn Grad sinkt, ist das ein willkommener Aufwärmpunsch.

Der Gründer hat gestern bei Ikea gefütterten Stoff gekauft, daraus haben er und ein paar Freunde Umhänge genäht, für die Gäste im Freien. „Sie können sich nicht vorstellen, wie lang die Schlangen waren – 30 Kassen, an jeder standen wenigstens sieben Menschen“, erzählt er. „Von Krise habe ich da nichts gespürt.“ Auf die Demonstration am 23. Februar ist er trotzdem gegangen. „Komm schon“, sagt er, auf die Gewalt angesprochen. „So schlimm war das nicht. Jeder hat daran teilgenommen, und danach haben einige Radikale die Situation für sich ausgenutzt. Das ist fast Routine hier.“ Er lacht. „Und das sagt jemand, der nur drei Blöcke entfernt vom Parlament wohnt.“

Er lebt in einer WG, hat kein Auto, kauft sich Second-Hand-Kleidung, isst seine Mahlzeiten im 6 Dogs und repariert Sachen selbst. Es ist ein selbstbestimmtes Leben, ein freies, das ihm vor der Krise vielleicht verwehrt geblieben wäre. Denn für die Schanklizenzen, so erzählt er, musste er keine Schmiergelder bezahlen – eigentlich ein unerhörter Vorgang. Das einzige Opfer, das er gebracht hat: ein Stück Land verkauft, das der Familie gehörte. „Ich bin nach wie vor optimistisch“, sagt er.

Er erzählt von den Studenten, die an der Bar arbeiten. „Wir wissen, dass es einige von ihnen schwer haben. Deshalb geben wir ihnen etwas mehr Geld: 65 Euro für sieben Stunden. In anderen Bars sind 50 Euro normal.“ Vielleicht ist es genau das, was Veroniki als neuen Gemeinsinn bezeichnete : die Fähigkeit, Rücksicht zu nehmen, einander zu helfen. Ein Leben, in dem es weniger Geld gibt, aber mehr Freiräume. Irgendwann ist die Krise auch vorbei, daran glaubt Konstantinos fest. „Und dann“, sagt er, „kaufe ich mir einen alten Alfa Romeo Spider.“

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