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Panorama: Atom-U-Boot in Not: Sturm, Regen und Nacht - Wer die Männer auf der "Kursk" retten will, muss vor allem die Natur bekämpfen

Irina heißt die gegenwärtige Herrin der Barentssee. Irina kommt von Eirene, dem griechischen Wort für Frieden.

Irina heißt die gegenwärtige Herrin der Barentssee. Irina kommt von Eirene, dem griechischen Wort für Frieden. Doch die Lady führt sich eher auf wie eine Furie: Mit harter Hand rafft sie zusammen, was immer an Sturm und Gewölk die nördliche Arktis hergibt: Irina ist ein Tiefdruckwirbel, der mit Windböen von bis zu acht Beaufort - 17 Meter pro Sekunde - die Barentssee umpflügt. "Irina" entscheidet über 116 Menschenleben - Matrosen und Offiziere des Atom-U-Boots "Kursk", das seit Sonntagmorgen im arktischen Meer gefangen ist.

Eine fahle Morgensonne haucht die Ränder der Wolkenbänke schwefelgelb an. Bis zu fünf Meter hoch sind die weißen Wellenberge. Stahlgrau, wie in allen kalten Meeren des Nordens, gähnen die Wellentäler. Stahlgrau ist auch der Rumpf der "Kursk", der in 108 Meter Tiefe auf dem sandigen Meeresgrund liegt. Manövrierunfähig und mit bedenklicher Schieflage Richtung backbord. Mit einem Neigungswinkel von mehr als 60 Grad und daher ohne Chance, Rettungskapseln startklar zu machen.

Die Besatzung der "Kursk" werde unbedingt evakuiert, tönte der für Rüstungsindustrie zuständige Vizepremier Ilja Klebanow bereits im Fernsehen. So recht glauben wollten ihm das gestern Nachmittag nicht mal die Offiziersfrauen in Seweromorsk. Stumm harrten sie vor dem Stab der Nordmeerflotte aus, bereit, sich an jedes nichtssagende Wort der Presseoffiziere zu klammern. Trotz Sturm, Regen und Nacht. Doch der Oberkommandierende der Nordmeerflotte, Wjatscheslaw Popow, der schon am Montag mit allen verfügbaren Kräften in See gestochen war, um die Bergungsoperation vor Ort persönlich zu leiten, macht ihnen keine Hoffnung: "Seit gestern Abend", sagt er mit zerknautschtem Gesicht, "sind wir praktisch keinen Schritt weitergekommen."

Insgesamt 15 Kampfschiffe und ein ganzes U-Boot-Geschwader patrouillieren inzwischen im Katastrophengebiet. Flottenchef Popow verfolgt per Feldstecher auf der Kommandobrücke des Kreuzers "Peter der Große" jede Bewegung der Schiffe, die von der starken Strömung immer wieder abgetrieben werden. "Alles zur Evakuierung bereit" meldet ein Kapitänleutnant. Doch die schwere See bietet bis zum Abend keine Chance, Rettungskapseln ins Wasser zu lassen. Ohnmächtig müssen die Matrosen mit ansehen, wie "Irina" die aufgewühlte See gegen die Schiffswand haut. "Na chui" flucht einer der Taucher, die sich seit Stunden für den Ernstfall bereithalten. Dann macht er seiner Wut gegenüber einem Fernsehteam des Verteidigungsministeriums Luft. "Das Schlimmste ist, wenn man nichts tun kann, das zehrt an den Nerven."

Hektische Betriebsamkeit herrscht nicht nur an Bord von "Peter der Große". Auch im Moskauer Verteidigungsministerium klingeln pausenlos die Telefone. Offiziere studieren Wetterkarten. Die Prognosen sind niederschmetternd: Frühestens am Freitag räumt "Irina" das Feld. Bis dahin könnten eventuell auch die legendären MIR-Rettungskapseln aus dem Institut für Ozeanografie im Krisengebiet sein, die vor 25 Jahren für Tiefsee-Expeditionen gebaut wurden. Die Frage ist nur, ob die Mannschaft so lange durchhält. Eine bange Frage.

Wie es tatsächlich an Bord aussieht, weiß zu der Zeit niemand. Offiziere und die seit Montag vor Ort präsenten Mitarbeiter des Petersburger Konstruktionsbüros, wo die "Kursk" 1994 auf Kiel gelegt wurde, heben hilflos die Hände: "Wir wissen bis jetzt nicht, wie groß das Leck ist, wie viel Wasser bereits eingedrungen ist und welche Temperatur im Innern des Bootes herrscht", bekennt Chefkonstrukteur Igor Baranow.

Um die wichtigste Frage aber drücken sich alle herum: Wie groß sind Dieselreserven und Akkumulatoren für das Notstromaggregat, mit dem auch Luftumwirbelung und Sauerstoffzufuhr an Bord stehen und fallen? Hochgestellte Militärmediziner wiegeln im Fernsehen ab: Die Besatzung habe ein ausgezeichnetes Psychotraining für Extremsituationen hinter sich. Ob sie sich jemals gefragt haben, was ein blutjunger Matrose empfindet, der sich jede Bewegung überlegen muss, um Energie und damit Atemluft für sich und seine Kameraden zu sparen? Was geht einem Familienvater durch den Kopf, lebendig begraben in einem stockdunklen Verlies, längst jenseits von Gut und Böse und ohne Vorstellung, wie viel Zeit bereits verstrichen ist? Die Reserven an Trinkwasser, das wurde gestern Vormittag auf einer Pressekonferenz bekannt, reichen ohnehin nur für zwei Tage. Dabei sollen die U-Boote der Antäus-Klasse bis zu vier Monaten abtauchen können. Genau das sollte die "Kursk" im November tun. Dann nämlich wollte, von Atom-U-Booten eskortiert, ein größerer russischer Flottenverband ins Mittelmeer auslaufen.

Selbst, wenn es gelingen sollte, die Besatzung zu retten, das U-Boot selbst rostet auf dem Boden der Barentssee seinem Ende entgegen. Und mit ihm seine strahlenden Schätze: zwei Kernreaktoren, spaltbares Material, 24 Flügelraketen und mehrere Torpedos. Ob die Raketen tatsächlich nicht mit atomaren Sprengköpfen bestückt sind, bezweifeln Beobachter angesichts der Geheimniskrämerei inzwischen.

Sehnsucht nach der Heimat

Die Barentssee und die Karasee östlich der Inselgruppe Nowaja Semlja gelten als atomare Kloake. Anfang der 90er Jahre war das Gebiet kurzzeitig zivilen Forschern zugängig. Bislang nicht veröffentlichte Unterlagen einer russischen Arktis-Expedition aus der Zeit beweisen, dass die Sowjets dort zwischen 1961 und 1990 unter grober Verletzung internationaler Abmachungen in großen Mengen radioaktiven Müll verklappt haben. Wie aus dem Logbuch von Bordingenieur Zolotkow hervorgeht, wurden in den zum Testgelände gehörenden Gewässern 11 000 Atommüll-Container versenkt - Rückstände von Kernwaffentests. Dazu kamen 15 defekte Reaktoren von U-Booten, fünf davon mit Brennelementen. Allein im Tiefseegraben der Karasee wurden zwischen 1967 und 1990 fast 1500 Container mit festem Kernbrennstoff versenkt. In weiteren Buchten liegen hunderte von Containern - nur 20 Meter unter der Wasseroberfläche.

Gegen die nukleare Verseuchung protestierten Umweltschützer und Nachkommen von Ureinwohnern der Insel, Nenzen, die Mitte der 50er Jahre gewaltsam vertrieben worden waren, weil dort Bomben der Megatonnen-Klasse gezündet wurden. Seit 1994 verweigert das Oberkommando der Seekriegsflotte jegliche Kontrollen auf dem Gebiet des ehemaligen Testgeländes und in den angrenzender Gewässern. So wird Olga Wylka, die Tochter des einstigen Inselhäuptlings, ihre Pläne nicht erfüllen können. Die Leiche ihres Vaters, der sich aus Verzweiflung zu Tode trank, wollte sie wenigstens auf der Insel bestatten. Und dann dort selbst ihre letzte Ruhe finden.

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