zum Hauptinhalt

Attacke an der S-Bahn: Solln-Prozess: Ein Fall für den Gutachter

Als die Verhandlung wegen Mordes an Dominik Brunner begann, galten die beiden Angeklagten als Monster. Das änderte sich. Jetzt stehen die Schlussplädoyers für Marcus S. und Sebastian L. an.

Am rechten Isarhochufer ragt eine weiße Kirche mit Zwiebelturm auf, umgeben von einem Friedhof mit Kiesboden und vielen Blumen. Das Landgericht München I, in dem der Fall des getöteten Dominik Brunner verhandelt wird, ist weit weg, das Gefängnis Stadelheim auch. Man meint, sich in einem Dorfidyll zu befinden, wo es keine Erpressungen, Fußtritte oder auch nur brutalen Rapsongtexte gibt.

Rainer Werner Fassbinder liegt hier begraben. Oskar Maria Graf. Und Erich Kästner. „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“, hat Kästner einmal geschrieben. Ein Satz, der über dem Fall Brunner stehen könnte wie kein zweiter.

Im Prozess gegen die beiden Angeklagten, in dem an diesem Dienstag die Schlussplädoyers anstehen, sind die Fakten bekannt: Sebastian L., 18 Jahre alt, und vor allem Markus S., 19 Jahre alt, haben am 12. September 2009 den Manager Dominik Brunner so heftig geboxt und getreten, dass der starb. Nicht direkt durch die Wucht der Schläge und Tritte, sondern, wie die Staatsanwaltschaft erst später bekannt gab, weil sein vorgeschädigtes Herz aussetzte. An der Mordanklage änderte sie nichts.

Für den Versuch, mehrere von den Tätern bedrohte Jugendliche zu schützen, hat Brunner von der Stadt posthum das Bundesverdienstkreuz erhalten. Er wurde allgemein als Held der Zivilcourage gefeiert, eine Stiftung, die seinen Namen trägt, wurde gegründet. Und die Täter galten als Mörder und Monster.

Das änderte sich dann. Als der Prozess unter dem besonnenen Vorsitz von Reinhold Baier ganz allmählich herausschälte, um wie viel verwickelter das Geschehen im Vorort Solln gewesen ist. Dass Brunner die ersten Faustschläge setzte, erschütterte das Bild vom selbstlosen Helden maßgeblich. Ja, er hat Unfug verhindert, wie Kästner es forderte. Schließlich setzte sich Brunner schützend zu den bedrohten Jugendlichen, stieg mit ihnen aus und rief die Polizei. Zu deeskalieren dagegen gelang Brunner nicht. Nun muss das Gericht seine Faustschläge werten. Wie auch sein schwaches Herz.

Für die Bewohner der Stadt tat sich mit dem Tod Brunners erneut ein Abgrund auf. 2007 verunsicherte sie die überaus brutale Attacke von zwei jungen Männern auf einen Rentner in der U-Bahn. Im vergangenen Dezember dann schlugen sechs Jugendliche einen 24 Jahre alten Mann und seinen jüngeren Bruder nieder. Die Gewalt kam immer unvermittelt. Sie ereignete sich an Orten, die man nicht mit Gewalt in Verbindung brachte. Sie schlug zu in einer Großstadt, die ihre Viertel als kleine, beschauliche, wenngleich trendige Dörfer begreift. Die eine grüne Stadt mit Herz sein will und als Maskottchen ein kleines, harmloses Münchner Kindl hat. Eine 1,36-Millionen-Einwohner-Stadt, die volkstümliche Traditionen beschwört, im Gericht noch wie zu uralten Zeiten Bayerisch spricht und dabei großstädtisch genug ist, all die Probleme zu züchten, unter denen die Gesellschaft leidet. Vielleicht war der Wunsch, einen Helden der Zivilcourage auszurufen, darum so groß: weil die Verunsicherung neu ist und tief geht.

Man weiß jetzt, dass Sebastian L. mitten im Glockenbachviertel aufwuchs, da, wo Mütter Kinderwagen übers Pflaster schieben und Milchkaffee trinken und handgefertigte Portemonnaies kaufen, wo ein Bach plätschert und abends die Bürgersteige vor den zahlreichen Cafés rappelvoll sind. Hier ging der schüchterne Junge mit der leisen Stimme in eine freundliche, weltoffene Grundschule, als „innovativste Schule Bayerns“ gepriesen und besuchte die Hauptschule, die – Hauptschule hin oder her – zu den besten der Stadt gehört.

In der größten evangelischen Kirche der Stadt ließ er sich konfirmieren und war in seiner Gruppe gut integriert, wie Pfarrer Andreas Ebert sagt, weil er die Gunst der Stärkeren gewann. Die Mutter zu Hause allerdings war überfordert. Die Eltern hatten sich getrennt, als Sebastian vier Jahre alt war, mit elf trank er sein erstes Bier, begann zu rauchen und zu kiffen und presste auf dem großzügig angelegten Glockenbachspielplatz anderen Kindern Geld ab. Das Jugendamt sprach mit der Mutter, offenbar sprach niemand mit Sebastian L. selbst.

Ein Riss geht durch das idyllische Viertel in der Stadtmitte. Wie durch jede Idylle, überall und immer schon.

Vor zehn Jahren vergewaltigte hier ein Serientäter ein Mädchen auf der Toilette einer Katholischen Mädchenschule. 2006 wurde eine Millionärin in ihrer eigenen Tiefgarage ermordet. Vor bald zwei Jahren fasste man mitten im kinderreichen Viertel einen Rettungssanitäter, der am Ackermannbogen im Münchner Norden zwei Kinder vergewaltigt hatte. Hinzu kommen die kleinen Tragödien, der Selbstmord in einem der sanierten Altbauten am südlichen Friedhof etwa, der Tod der alten Dame, die man erst Wochen später fand, all das. Aber die innovativen Läden, die fröhlich verspielte Stimmung täuschen erfolgreich über Risse hinweg. Wie auch die bürgerlich-ordentlichen Häuser in Johanneskirchen, dem Teil Bogenhausens, in dem Markus S., der andere Angeklagte mit seinen Eltern und zwei Geschwistern lebte, eine sehr nett wirkende Fassade sind.

Tagsüber hing Markus S. nicht etwa in einem schäbigen Bahnhofsviertel ab, man traf sich im Zamilapark, Mitte der 90er Jahre als schönste Grünanlage Bayerns ausgezeichnet. Es gibt dort einen See, Bäume, Wege und weitläufige Wiesen. Jugendliche, die skaten. Und ein paar Versprengte wie Markus S., die mit ihrem Tag nichts anzufangen wissen.

In Solln schließlich, wo das Leben Dominik Brunners endete, genießen betuchtere Münchner ein beschauliches Leben hoch über der renaturierten Isar, ihren Biergärten am Kanal und verwunschenen Wäldern, die so mancher innenstädtische Kindergarten für die angesagten Waldtage nutzt.

Der Schein ist schön, die Fassade hübsch, und doch gelang es im Fall Brunner niemandem, den Kästnerschen Unfug, Alkoholismus, Drogensucht, letztlich: die Verrohung der Angeklagten und die schrecklichen Folgen ihrer schrecklichen Tat zu verhindern. So war im Kuppelsaal des Landgerichts die Frustration jener, die sich als Pädagogen um Jugendliche bemühen, mit Händen zu greifen: die Lehrerin, die es auch beim zweiten Sitzenbleiben ihres Schülers nicht für nötig hielt, mit den Eltern in Kontakt zu treten. Der gerichtlich bestellte Vormund, dem es offensichtlich nicht gelang, ein vertrauensvolles Verhältnis zu Markus S. aufzubauen. Der Lehrer an der Berufsschule, dem eine Meute desinteressierter, am MP3-Player hängender Schüler das Unterrichten vergällt. Die Sozialarbeiter des Easy-Contact-Hauses, die den Drogenkonsum ihrer Bewohner tolerierten, statt eine kräftige, führende Hand auszustrecken – weil ihr niedrigschwelliges Angebot das nicht erlaubt. Hinzu kommt am Tattag eine Polizei, die auf den Notruf Brunners sehr spät am Bahnhof Solln eintrudelte, ein kräftiger, geschmeidiger Mitfahrer in der S-Bahn, der offen zerknirscht zugab, „den Hintern nicht hochbekommen“ zu haben, als die Schlägerei begann, sowie ein Lokführer, der im Gefühl, seine Pflicht auszuüben, davonfuhr.

Von dem entscheidenden Versagen der Eltern erhielt man, da die Eltern von Sebastian L. verstorben sind und Markus S.’ Eltern nicht aussagten, lediglich eine Ahnung: In einem Fernsehbericht teilte Markus’ Mutter, die inzwischen zwei Söhne im Gefängnis hat, mit versteinerter Miene mit, sie wüsste nicht, was sie falsch gemacht habe – und würde heute nichts anders machen als früher.

Und so wurde dieser Mitte Juli begonnene Prozess vor Gericht vor allem auch ein Prozess des Verstehens und Begreifens. Es entstand ein differenzierteres Bild von der Tat und den Tätern. Jugendliche rutschen durch, Hilfssysteme versagen in der Münchner Idylle wie überall: ein trauriges Zeugnis des Scheiterns.

Einmal allerdings, vor Gericht, blitzt etwas anderes auf. Etwas, das man in den Tagen des Prozesses vergebens gesucht hat, weil man nur Menschen sah, die sich nichts zu sagen haben, Jugendliche, die einsam sind und es vielleicht immer waren. Doch dann kommt der letzte Prozesstag vor der Sommerpause.

Die Luft ist wie immer stickig, ein paar Ventilatoren sorgen für wenig Kühle. Morgens hat hier, im Kuppelsaal, noch der NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk gelegen, mit Sonnenbrille, reglos. Nachmittags sagt Sebastian L.s Jugendgerichtshelfer aus. Ein hagerer Mann. Er sagt nicht viel, das meiste ist ja schon gesagt worden in den vergangenen Wochen. Einen Seitenhieb setzt er allerdings auf das bayerische Schulsystem, in dem Kinder versagten, deren Mütter nicht bei den Hausaufgaben helfen. Mit Nachdruck erinnert er daran, dass „der Sebastian früh seine ganze Familie verloren hat“. Viel mehr erfährt man von ihm nicht. Aber man sieht etwas. Einen Blick, den er Sebastian schickt, aufbauend, freundschaftlich, voll Sympathie. Sebastian L. schaut zurück. Er sieht weich aus und traurig in diesem Moment, wie gelöst. Warum nur ist dieser Jugendgerichtshelfer Sebastian L. nicht früher begegnet? Vielleicht hätte er Unfug verhindern können, im Kästnerschen Sinn.

Einen Steinwurf von Kästners Grab entfernt, am Bogenhausener Kirchplatz, steht eine Schule für Bildungsverlierer. Sie päppelt Jungen und Mädchen auf, die keinen Abschluss gemacht haben. Ein ehrgeiziges Projekt mit Pädagogen, die ihr Bestes geben. Damit junge Leute die Chance bekommen, eine Ausbildung zu machen. Sebastian L. hatte man dort einen Platz reserviert. Aber er ging nicht hin.

Zur Startseite