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Panorama: Auf dem falschen Gleis

Vor dem Unglück in der Türkei gab es viele Warnungen. 36 Menschen sind tot.

Hande Cakiroglu hatte Glück. Kurz nachdem sie sich am Donnerstagabend auf ihren Platz im ersten Wagen des Schnellzuges von Istanbul nach Ankara gesetzt hatte, ging sie mit ihrem Verlobten Mansur ins Zug-Restaurant im letzten Waggon. Mit hohem Tempo ging es durch die ländliche Region unweit des Marmara-Meeres. Gegen 18.45 Uhr fing der Zug südlich der Stadt Sakarya plötzlich an zu schwanken, wenig später entgleisten die fünf Waggons.

Der Speisewagen, in dem Hande Cakiroglu saß, kippte um, blieb aber größtenteils intakt. Die junge Frau konnte durch eine zerborstene Fensterscheibe nach draußen klettern. Als sie zum völlig zerstörten ersten Wagen rannte, um nach ihren Mitreisenden zu sehen, stockte ihr der Atem. „Da lagen Fleischfetzen, überall war Blut“, berichtete sie im türkischen Fernsehen. Einige Opfer wurden von den zerberstenden Waggons enthauptet, andere zerquetscht. In den zerstörten Abteilen piepsten den ganzen Abend lang unablässig die Handys von Unfallopfern, die die besorgten Anrufe von Freunden und Verwandten nicht mehr entgegennehmen konnten. Insgesamt 36 Zuginsassen starben, mehr als 80 wurden verletzt.

Die ersten Helfer – Dorfbewohner und Autofahrer von der nahen Überlandstraße – versuchten mit bloßen Händen, die verkeilten Türen der Waggons zu öffnen. Tote und Verletzte wurden im Licht von Taschenlampen und Autoscheinwerfern aus den Trümmern gezogen.

Dann erst trafen die Bergungstrupps der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes mit schwerem Gerät ein. In der ersten Verwirrung gaben die Behörden die Zahl der Toten mit bis zu 140 an. Dann korrigierten sie die Opferzahlen wieder nach unten, weil sich herausgestellt hatte, dass einige Leichen zweimal oder dreimal gezählt worden waren. Unter den Todesopfern war auch ein Österreicher, der mit seiner türkischen Frau Urlaub machen wollte. CNN Türk berichtete, unter den Opfern seien viele Kinder. Der Fernsehsender zeigte Bilder von Rettungskräften, die blutüberströmte und weinende Kinder aus den Zugtrümmern bargen.

Nach diesem schwersten Bahnunglück in der türkischen Geschichte beklagt die Türkei die vielen Opfer und sucht nach Ursachen und Verantwortlichen. Der erste Verdacht richtete sich gegen die Zugmannschaft, die nach Zeitungsberichten seit der Einweihung der Schnellzugverbindung Istanbul-Ankara vor gut einem Monat immer mal wieder mehr Gas gegeben hat, als eigentlich erlaubt ist. Der Zugführer und zwei Maschinisten wurden festgenommen.

Sie hätten nur die Anordnungen ihrer Vorgesetzten ausgeführt, gaben sie zu Protokoll. Der Zug sei mit etwa 110 Stundenkilometern sogar noch etwas langsamer gewesen als angeordnet. Dagegen sagt der Verkehrsminister Binali Yildirim, der Zug sei an der Unfallstelle etwa 30 Stundenkilometer schneller gewesen als erlaubt. Die türkische Öffentlichkeit geht dagegen nicht davon aus, dass das Unglück nur von ein paar Rasern in der Lok verschuldet wurde. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Yildirim hätten in den letzten Wochen viele Warnungen von Experten in den Wind geschlagen, berichten die Zeitungen. Für einen Professor und Verkehrsfachmann, der den sofortigen Stopp der Schnellzugvebindung forderte und beide Politiker deshalb dringend um ein Gespräch bat, hatten der Premier und sein Minister keine Zeit. Die Sicherheitsüberprüfung der Gleise auf der rund 600 Kilometer langen Strecke zwischen Istanbul und Ankara wurde nicht vor Beginn der neuen Express-Verbindung gestartet, sondern erst, als die Züge schon rollten. Vorbereitende Infrastruktur-Arbeiten gab es nicht. Nicht der Zug sei entgleist, sondern die Regierung, sagte der Oppositionspolitiker Mehmet Agar. Politiker und Gewerkschafter forderten den Rücktritt der Regierung. Zumindest Verkehrsminister Yildirim müsse seinen Hut nehmen. Der sichtlich unter Druck stehende Erdogan lehnte dies strikt ab. Den Journalisten, die ihn auf eine mögliche Entlassung seines Verkehrsministers ansprachen, riet der sonst im Umgang mit der Presse sehr ruhige und souveräne Erdogan, sie sollten gefälligst bei ihrem Leisten bleiben. Erdogan, der die Unglücksstelle noch am Donnerstagabend besuchte, erklärte weiter, Eisenbahn-Unglücke könnten eben überall auf der Welt passieren. Die türkischen Medien machen Stimmung gegen die Regierung: „Serienmord“ schrieb „Hürriyet“, „Sie starben für eine Show“, hieß es in „Milliyet“.

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