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Panorama: Auftritt im Schlafanzug

Der Prozess gegen den Popsänger Michael Jackson wird immer mehr zur Medien-Show

Wer wissen will, was Amerika bewegt, muss die „Breaking News“ der TV-Nachrichtensender bestellt haben. Die werden jedem Internetbenutzer kostenlos zugesandt. Ob Terror, Krieg oder Politik- Skandale: Kurz, nachdem das Ereignis geschah, ist man alarmiert. Der Donnerstag begann mit dem Selbstmordanschlag in einer Moschee in der irakischen Stadt Mossul. Doch wenig später rappelte es richtig in der Kiste. Im Stakkato-Rhythmus jagte eine Sensation die nächste. „Richter im Michael-Jackson-Prozess erlässt Haftbefehl.“ – „Popsänger offenbar verletzt.“ – „Richter gibt Jackson eine Stunde Zeit.“

CNN schaltet sich live in das Drama ein. Um 8 Uhr 35 Ortszeit hatte Richter Rodney Melville einen Haftbefehl gegen Jackson erlassen, weil der Angeklagte nicht zum Prozess erschienen war. Nun telefonieren dessen Anwälte hektisch übers Handy. Der Sänger soll heftige Rückenschmerzen haben, heißt es. In einer Stunde müsse er im Gerichtssaal sein, ordnet Melville an. Sonst werde er verhaftet. Wenig später blendet CNN die „deadline clock“ ein, auf der die Sekunden und Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums gezählt werden. Schafft er es?

Informationen sickern durch. Jackson sei beim morgendlichen Anziehen gestürzt. In der Notaufnahme des Krankenhauses in der Stadt Solvang, rund fünfzig Kilometer vom Verhandlungsort in Santa Maria entfernt, werde er behandelt. CNN zeigt die Straßenkarte. Experten berechnen die Geschwindigkeit, mit der sein Auto fahren muss. Richter Melville kennt kein Pardon. Einen Divenbonus gesteht er dem Sänger nicht zu.

Das Ultimatum verstreicht. Jackson ist nicht da. Doch dann, gegen 9 Uhr 40, fährt seine Entourage vor. Der 46-Jährige, dem Kindesmissbrauch, Entführung und Alkoholausschank an Minderjährige vorgeworfen werden, steigt aus. Und nun folgen Bilder, die in den amerikanischen TV-Sendern wie in einer Endlosspule immer wieder zu sehen sind. Jackson wird von seinem Vater und einem Bodyguard gestützt. Er trägt Sandalen und eine blaue Pyjamahose. Über ein weißes T-Shirt hat er ein dunkles Sakko gestreift. Sein Gang ist schleppend, das Gesicht schmerzverzerrt. Um 9 Uhr 44 nimmt er im Gerichtssaal Platz. Der Richer verzichtet auf die Anordnung der Untersuchungshaft.

Die Ereignisse vom Donnerstag haben diesen Prozess endgültig zur Medien- Show gemacht. Von jetzt an wird ein Heer von Juristen, Psychologen, Medizinern und Kriminalisten das US-Publikum mit Thesen bombardieren. Hat Jackson von der Aussage seines mutmaßlichen Opfers ablenken wollen? Zerbricht er seelisch? Was setzt einem Menschen, dem sein Reichtum ermöglichte, in einer Traumwelt zu leben, mehr zu: das schlechte Gewissen oder die schlichte Realität des täglichen Prozessablaufes? Keiner weiß es. Die Ungewissheit nährt das Drama.

Wer ist Jackson? Er könnte ein sensibler, talentierter, bizarrer, exzentrischer, naiver Gutmensch sein, der keiner Fliege etwas zu Leide tun kann, aber ständig ausgenutzt wird. Als solchen präsentiert ihn die Verteidigung. Aus seiner Liebe für Kinder hat er nie ein Geheimnis gemacht. In einem Film gab er sogar zu, mit ihnen gelegentlich das Bett zu teilen. Er könnte aber auch ein Pädophiler sein, der seine Fürsorge als Machtmittel benutzt. Ein skrupelloser Allmachtsphantast, der stets bekam, was er wollte. Harte Beweise, wie etwa DNA-Spuren, gibt es nicht. Am Ende müssen die zwölf Geschworenen die Frage beantworten, wer glaubhafter war.

Und wer ist Jacksons mutmaßliches Opfer? Der Junge, der ein schweres Krebsleiden überwand, ist heute 15 Jahre alt, zur Tatzeit war er 13. Ausführlich entfaltete er am Donnerstag seine Vorwürfe. Mindestens zwei Mal soll Jackson ihn per Hand zum Orgasmus gebracht haben, angeblich um ihn die Masturbation zu lehren. Bei seinen Besuchen auf der Neverland-Ranch sei ihm oft Alkohol eingeflößt worden. In Cola-Dosen sei Wein serviert worden, den Jackson „Jesus-Saft“ genannt habe.

Doch auch hinter diesen Schilderungen könnte eine andere Wahrheit verborgen sein. Lügt der Junge? Ist er geldgierig? Im Kreuzverhör mit Jacksons Anwalt Thomas Mesereau verwickelt er sich in Widersprüche. Warum ist der Junge erst zur Polizei und an die Öffentlichkeit gegangen, nachdem er bei Larry Feldman war? Feldman ist jener Anwalt, der 1993 in einer außergerichtlichen Einigung mehrere Millionen Dollar von Jackson in einem anderen Fall von mutmaßlichem Kindesmissbrauch erstritten hatte. Die Mutter des Jungen gilt als notorische Betrügerin. Alles ist möglich. Der Prozess ist auf sechs Monate angesetzt. Jackson drohen bis zu zwanzig Jahre Haft. Das Spektakel, auch Wahrheitsfindung genannt, verspricht weitere Sensationen. Ab Montag könnte es wieder „Breaking News“ hageln.

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