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Panorama: Auge in Auge

Heute beginnt die heiße Phase des Eschede-Prozesses – die gegnerischen Gutachter sollen direkt miteinander diskutieren

War das Zugunglück von Eschede vorherzusehen? An dieser Frage entzündet sich ein heftiger Gutachterstreit beim schon seit August währenden Strafprozess gegen drei Ingenieure. Das geht aus Stellungnahmen von Sachverständigen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegen. Die Fachleute, die die Staatsanwaltschaft Lüneburg beauftragte, sowie die von den Verteidigern verpflichteten Gutachter aus Japan, Schweden und Südafrika werfen einander Fehlmessungen und „falsche Bewertungen“ vor. Mit dem ersten Zusammentreffen der beiden Seiten tritt der „Eschede-Prozess“ am heutigen Mittwoch in seine entscheidende Phase.

Die drei Angeklagten sollen für den Radreifenbruch verantwortlich sein, nach dem am 3. Juni 1998 in der Südheide 101 Menschen starben und 105 weitere verletzt wurden. Die Staatsanwaltschaft wirft den 55 bis 67 Jahre alten Ingenieuren fahrlässige Tötung und Körperverletzung vor, weil sie im Eisenbahnzentralamt und beim Herstellerwerk gummigefederte Radreifen für den Hochgeschwindigkeitszug konstruierten beziehungsweise genehmigten – ohne lange Vorprüfung, und ohne genaue Kontrollen festzuschreiben. Zeigen soll sich nun, ob die Zulassung des ICE-Reifens, der das Unglück verursachte, dem Stand der Technik entsprach.

Seit fast einem halben Jahr also sitzen die Männer auf der Anklagebank in Gerichtssälen, die aus Platzgründen alle paar Wochen wechselten: zum Auftakt wegen des großen Medieninteresses im Kreistag in Celle, während der Befragung von Geschädigten im November und Dezember im Oberlandesgericht Celle, nun in der „heißen Phase“ im großen Schwurgerichtssaal in Hannover. Immerhin müssen zwölf zusätzliche Gutachter und mehrere Dolmetscher Platz finden. Das Gericht lädt alle Experten gleichzeitig ein, so dass sie direkt miteinander diskutieren können. Etwa zwei Monate soll die Redeschlacht dauern.

Bisher hat die Verhandlung auf die Bahn ein schlechtes Licht geworfen. Kaum zu glauben, wie schludrig sie die Räder ihrer ICE-Wagen kontrolliert hat. Bei mehreren Rädern des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“, der auf dem Weg von München nach Hamburg entgleiste, seien im Wartungswerk in München „völlig unrealistische Werte“ festgestellt worden, erläuterte ein Bundesgrenzschutzbeamter vor dem Landgericht. Für etwa ein Drittel der Radsätze des Zuges habe das automatische Überwachungssystem Fehlmessungen geliefert; schon ein Sandkorn auf einem Rad konnte zu falschen Daten führen.

Die Gutachter Gerhard Fischer und Vatroslav Grubisic vom Fraunhofer-Institut in Darmstadt, auf die sich die Staatsanwaltschaft stützt, haben festgestellt, dass der „Eschede-Reifen“ nach einem Innenriss noch mehr als 100 000 Kilometer im Einsatz gewesen war.

Diese beiden Sachverständigen wollen sich nun zur Wehr setzen gegen Vorwürfe, ihre Berechnungen seien ebenso falsch gewesen wie ihre Schlussfolgerung, ein Radreifenbruch am ICE sei nur eine Frage der Zeit gewesen. „Es handelt sich um einen typischen Ermüdungsbruch“, schreiben Fischer und Grubisic auch in ihrer neuen Stellungnahme. Für die Gutachten der Verteidigung, die unter anderem in Japan, Südafrika und Schweden erstellt wurden, finden die Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts vernichtende Worte: „Die Schlussfolgerungen sind grundsätzlich falsch.“ Ähnlich hart beurteilen die Gutachter von Verteidigung und Bahn ihre Kollegen vom Fraunhofer-Institut. Gemeinsam schreiben diese Eisenbahnspezialisten, „dass die Sachverständigen der Staatsanwaltschaft in ihren Arbeiten die Grundursache für das Entstehen des Risses im Rad von Eschede nicht angegeben oder geklärt haben.“ Sie meinen, gummigefederte Radreifen seien im Prinzip „dauerfest“ gewesen. Zum Bruch, und damit zur Entgleisung des ICE, habe eine nicht vorhersehbare Kette unglücklicher Umstände geführt.

Fischer und Grubisic werfen den Gegengutachtern vor, ihre Messungen nicht „am rollenden Rad“ vorgenommen und wesentliche Abnutzungseinflüsse wie Schmutz und Feuchtigkeit vernachlässigt zu haben. Die Nebenkläger, Hinterbliebene und Verletzte, sehen die Position der Anklage durch diese neue Stellungnahme vom Fraunhofer-Institut erhärtet. „Sie bestätigt die bisherigen Aussagen zur Unfallursache“, sagt ihr Berliner Anwalt Remo Klinger. Am Mittwoch, wenn die Gutachter aufeinander treffen, will auch Heinrich Löwen, der Sprecher der Selbsthilfegruppe Eschede, wieder dabei sein. Der Berufsschullehrer aus Bayern hatte bei dem Unglück Frau und Tochter verloren. Mindestens bis zum Sommer wird er wohl auf ein Urteil noch warten müssen.

Gabriele Schulte[Hannover]

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