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Panorama: Auge um Auge

Die Blutrache aus alten Zeiten hat in Albanien wieder Konjunktur

Von Caroline Fetscher

Einer muss immer mit der Waffe Wache halten, wenn die Familie von Dila und Xhovalin Gerxhaliu schlafen geht. Dann riegeln sie das große Hoftor ab, und die Frauen und Kinder fühlen sich sicherer. Hier, in einer Barackensiedlung am Stadtrand von Tirana, der rasch wachsenden Hauptstadt Albaniens, haben die Gerxhalius Zuflucht gefunden. Oben im Norden, in der Ortschaft Puka, droht der Familie die Blutrache von Nachbarn. Seit sie in der Stadt sind, arbeitet sie tagsüber wieder, Dila in einer Schneiderei, ihr Mann Xhovalin auf dem Bau. Für ihn war das lange undenkbar.

„Sieben Jahre lang haben fast alle von uns in Puka das Haus nicht verlassen", erzählt Dila, die Mutter des siebenjährigen Blerim und der drei Jahre alten Dorina. Nur die Frauen trauten sich auf die Straße, zum Einkaufen oder Arbeiten. „Für jeden Mann in unserer Familie bdeutete ein Schritt vors Haus Lebensgefahr." Denn Xhovalins Vater soll einen Mann aus einer Nachbarfamilie auf dem Gewissen haben, der erschossen wurde, weil er sein Vieh auf der falschen Weide grasen ließ. Und oben in Puka gilt der Kanun, ein jahrhunderte alter Gesetzeskanon der Albaner, und der verlangt, dass für jeden getöteten Mann aus einer Familie, ein Mann aus der Familie des Täters sterben muss, ein Vater, Bruder, Schwager, Neffe, ganz gleich wer. Die „gjakmarrja", Blutrache, macht keinen Unterschied.

„Bis unser Sohn Blerim sechzehn ist, tun sie ihm nichts. Danach …" Dila seufzt. Blerim, noch in der Schuluniform mit dem weißen Kragen, tobt jetzt am Nachmittag auf dem Teppich im Wohnraum herum, dem Zentrum des Familienlebens. Rings um den Raum stehen Sofas, bunte Marienbilder schmücken die Wände und blicken auf die Familienmitglieder, die kommen und gehen, Tee trinken und bitter über die Regierung sprechen, die „nichts für uns tut", wie Dilas betagte Mutter klagt, die mit den Kindern und Enkeln im „Exil" lebt. 2500 Familien im Norden Albaniens leben „eingeschlossen", der Kanun, unter dem Kommunismus Enver Hoxhas strikt verboten, regiert wieder, überall da, wo die Justiz des Landes noch nicht greift. War der Kanun früher auf die Berggebiete im hohen Norden beschränkt, klettert er jetzt die Berge hinunter, während Rechtsstaat und Demokratie vom modernen Tirana, von der Ebene her, den Berg hinaufdrängen.

Sogar in Shkodra, einer traumhaft schön am Skutari-See gelegenen Stadt der Minarette und Kirchtürme zwischen Bergland und Küste, hat der Kanun jetzt Einzug gehalten. Und immer mehr Kinder und Frauen werden jetzt dort bedroht. Der örtliche Fernsehsender bringt Schulprogramme für die tausenden eingeschlossener Kinder, „damit sie wenigstens Lesen und schreiben lernen, hinter den Mauern", sagt Gjin Marku. Marku, 50, war früher Lehrer und Theaterwissenschaftler, und kümmert sich heute in seinem von der UNO unterstützten „Komitee für nationale Versöhnung" um Familien, die einander verfolgen. Er hat die Gerxhalius vor ein paar Wochen nach Tirana gebracht, in einem Lieferwagen ohne Fenster, bei Nacht und Nebel. „Sowas mache ich, wenn im Dorf ein Fest gefeiert wird, wenn die anderen abgelenkt sind." Diskret besorgt er den Familien Wohnungen und Jobs, und arbeitet auch in Dörfern Friedensabkommen für die streitenden Parteien aus: „Beide unterschreiben, dass sie einander in Ruhe lassen, oder dass eine Partei entschädigt wird, mit einem Stück Land oder einer Geldsumme."

Albaniens dreieinhalb Millionen Einwohner leben noch immer in zwei Welten. Während Tiranas Bürgermeister die Stadt radikal reformiert und gegen die Mafia vorgeht, entstehen hier Cafés und Boutiquen, besuchen tausende von Jugendlichen Computerkurse und Sprachschulen. Zugleich reicht der Arm der Regierung noch nicht in die vielen Nischen der Gesetzlosigkeit oder Eigengesetzlichkeit. Hunderte engagierter Projekte wie die der Stuttagarter Diakonie „Hoffnung für Osteuropa" oder der Soros-Stiftung füllen das Vakuum zwischen Anarchie und Demokratie. Jobs, medizinische Hilfe, Ausbildung, Erziehung zu Rechtsbewusstsein – vieles kommt noch von außen.

„Wir leben noch immer in einer Kultur der Gewalt", sagt Elsa Ballauri, Menschenrechtlerin in Tirana. „Wir sollten uns endlich mit Worten verständigen, nicht mit Waffen", wünscht sich Xhovalin Gerxhaliu. „Sonst müssen wir auswandern."

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