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Aurora-Preis: Projekt "100 Lives": Ein US-Botschafter öffnete seine Türen

Vielen ist zu verdanken, dass das armenische Volk noch existiert – ihre Geschichten kann man nachlesen.

Wohin schickt man einen Diplomaten, der zu ungelenk, vielleicht auch zu aufmüpfig ist fürs gesellschaftliche Parkett? Weit, weit weg. Leslie Davis, 1876 geboren im Bundesstaat New York, bekam einen Posten in Harput. Einer von 13 Orten, in denen es ein amerikanisches Konsulat im Osmanischen Reich gab. Davis kommt im Mai 1914 dort an, er war 38 Jahre alt. Ein knappes Jahr später fühlt er sich wie in der Hölle. Er wird Zeuge des Massenmords an den Armeniern, befohlen von der damaligen Regierung in Konstantinopel. Entlang der Straßen türmen sich Leichenberge, Männer, Frauen und Kinder sind unter den Toten.

Leslie Davis handelt. Er richtet Schutzräume für die Bedrohten ein, 80 Personen versteckt er in der Botschaft. Wer allein fliehen will, vertraut ihm Geld und Wertsachen an. Und bekommt – natürlich – alles wieder, sobald er in Sicherheit ist. Leslie Davis kümmert sich weiter um Notleidende. Er sammelt Spendengelder und vermittelt zwischen in den USA lebenden Armeniern und jenen in Harput.

Der Diplomat ist einer auf der langen Liste jener, die Menschen beim Überleben halfen oder bis heute auf berührende Weise dazu beitragen, das schreckliche Geschehen niemals zu vergessen. Vahe Berberian gehört dazu. Der Mann mit den grauen Zöpfen und gepiercten Ohrläppchen ist Stand-up-Comedian, Schriftsteller, Filmregisseur. Sein Humor ist entwaffnend, und er hilft ihm dabei, seine Familiengeschichte zu verarbeiten.

In vielen Familien wurde über die schrecklichen Ereignisse geschwiegen

Vahes Vater war ein Jahr alt, als man die Familie auf den sogenannten Todesmarsch durch die Syrische Wüste zwang. Kaum jemand überlebte die Tortur, ohne Nahrung, ohne Wasser. Um das quälende Leiden des Babys zu beenden, beschloss die Großmutter es im Euphrat zu ertränken. „Doch“, so erzählte sie später, „der Junge wollte einfach nicht sterben.“

Nur weil es so war, gibt es Vahe überhaupt. In vielen Familien wurde über die schrecklichen Ereignisse geschwiegen. Man wollte die Nachkommen nicht damit belasten, sie schützen. Vahe aber erfuhr alles. Und trägt nun dazu bei, dass das Armenische fortbesteht. Mit seiner Kunst – und mit seinem Humor.

Vahe Berberians Geschichte gehört zu denen, die in dem Projekt „100 Lives“ im Internet zu lesen sind. Denn, so heißt es im Einführungstext: „Selbst in den dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte gibt es einen Lichtschimmer. Vor einhundert Jahren setzten sich viele mutige Menschen für die Armenier ein und halfen, als sie es am dringendsten brauchten.“ Dank dieses Einsatzes überlebte eine Nation. Heute lebt die Dankbarkeit im Herzen eines jeden Armeniers fort.“

„Wenn ich die syrischen Flüchtlinge heute sehe, muss ich an uns Armenier denken“

Dalita I. Alex kann dies unterstreichen. Ihre Urgroßeltern setzten sich für Waisenkinder ein. Noch vor dem Völkermord an den Armeniern hatten sie zu ihren eigenen Kinder dreizehn weitere adoptiert. Als die Familie schließlich vertrieben wurde, kaufte sie viele entführte armenische Kinder bei den Kurden frei oder nahm alleingelassene Waisen einfach mit. Sie rettete diese Kinder und sich selbst vor dem Tod, indem sie die Türken mit Gold und Schmuck bestach. Dalita, heute erfolgreich in der Schweiz lebend, schreibt die Geschichte ihrer Familie fort. Ein Kreislauf entsteht. „Wenn ich die syrischen Flüchtlinge heute sehe, muss ich an uns Armenier vor 100 Jahren denken.“ Hilfe tut not, schon wieder. Aus diesem Projekt „100 Lives“ entwickelte sich der Aurora-Preis.

Mehr Geschichten im Internet: auroraprize.com/de/stories

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