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Panorama: Bahn im Visier der Ermittler

Der Radreifen galt schon am Tag eins nach Eschede als Verursacher der größten Bahnkatastrophe in Deutschland.Doch die Heftigkeit und Deutlichkeit der Vorwürfe, mit der die Staatsanwaltschaft gestern - zwei Wochen vor dem Jahrestag der Katastrophe - die Deutsche Bahn AG konfrontierte, überraschte die Öffentlichkeit.

Der Radreifen galt schon am Tag eins nach Eschede als Verursacher der größten Bahnkatastrophe in Deutschland.Doch die Heftigkeit und Deutlichkeit der Vorwürfe, mit der die Staatsanwaltschaft gestern - zwei Wochen vor dem Jahrestag der Katastrophe - die Deutsche Bahn AG konfrontierte, überraschte die Öffentlichkeit.Die Staatsanwaltschaft Lüneburg teilte mit, daß am Radreifen des Unglückswaggons ein "Ermüdungsbruch" nach einem Innenriß festgestellt worden sei."Damit haben wir den Fehler gefunden", sagte Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger lapidar.

Nahezu zeitgleich mit dieser Veröffentlichung des Gutachtens beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft am Vormittag in der Frankfurter Zentrale der Deutschen Bahn Akten.Darunter seien auch Protokolle der Vorstandssitzungen aus der Entwicklungs- und Produktionsphase des Radreifens gewesen, hieß es.Die DB selbst wurde vom Zeitpunkt, zu dem die Staatsanwaltschaft nun an die Öffentlichkeit ging, wohl kaum überrascht."Ich habe das vorausgesehen", sagte zum Beispiel Otto Ernst Krasney, der von der Bahn nach Eschede eingesetzte "Ombudsmann", gestern dem Tagesspiegel.Nach knapp einem Jahr sei jede Staatsanwaltschaft im Zugzwang, ihre Ergebnisse vorzulegen.Und auch der Inhalt habe ihn nicht überrascht, sagte der frühere Richter, der sich um die Opfer kümmert.Ungelegen kam allerdings der Zeitpunkt für die Bahn.Schließlich hatte sich die Stimmung sehr geglättet, da hatten viele Bahner wohl die Hoffnung, daß der Jahrestag ohne große Medien-Resonanz vorbeigehen würde.

Bei dem Unglück starben am 3.Juni vergangenen Jahres 101 Menschen, als der ICE 884 auf der Fahrt von München nach Hamburg im niedersächsischen Eschede an einer Weiche entgleiste und dadurch eine Brücke zum Einsturz brachte.Die hinteren Waggons des ICE rasten in die Trümmer.Auslöser war natürlich der Radreifen, zur Zäsur für die Eisenbahn wurde Eschede erst durch die Verkettung Rad-Weiche-Brücke-Einsturz.Wäre der Reifen einen Kilometer später abgeflogen, hätte das Unglück glimpflich ausgehen können.

Die Bahn warnte gestern unverdrossen vor "voreiligen Schuldzuweisungen".Stellung wolle man erst dann nehmen, wenn das Gutachten schriftlich vorliege, hieß es in Frankfurt.Bahnsprecher Heimbach nannte die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft einen "Zwischenstand"; einen Verdacht, der weiterer Ermittlungen bedürfe.

Dabei ist das Gutachten eindeutig.Schwere Versäumnisse führten nach Ansicht des Fraunhofer Institutes zur Katastrophe.So habe die Bahn ein Überwachungsverfahren nicht eingesetzt, das den Riß im Radreifen vorher hätte erkennen können."Ein solches war jedoch nach den nun vorliegenden Erkenntnissen für gummigefederte Räder mit hoher Laufleistung unverzichtbar." Der Riß habe vor dem Unglück vermutlich zu schlagenden Geräuschen geführt.Bereits seit April 1998 - also Wochen vor dem Unglück - hätten Zugbegleiter achtmal unruhiges Laufverhalten bemerkt und dokumentiert.In den Tagen vor dem Unglück wurde außerdem festgestellt, daß der Reifen eine Unrundheit von 1,1 Millimetern aufwies.Laut einer Anweisung von 1994 mußten Radreifen ab einer Unrundheit von 0,6 Millimetern ausgetauscht werden.Passiert ist bei den Wartungen jedoch nichts.Auch der Riß wurde nicht erkannt.Ein Material- oder Herstellungsfehler - bisher als Unglücksursache auch in Betracht gezogen - habe nicht vorgelegen, heißt es im Gutachten eindeutig.Zudem sei der Radreifen ziemlich abgefahren gewesen.Die geltenden Grenzwerte sind allerdings nicht überschritten worden.

Wohlgemerkt: die geltenden.Die Ermittler gehen jedoch dem Verdacht nach, "daß bei der Entwicklung und Zulassung des Rades der Bauart 064 das zulässige unterste Betriebsgrenzmaß für den Laufkreisdurchmesser nicht nach dem Stand der Technik bestimmt worden ist." Ein häufigerer Wechsel hätte natürlich Geld gekostet und die Vorzeige-Renner der Bahn öfters in die Betriebswerke geführt.Derzeit fährt ein ICE der 1.Generation etwa 530 000 Kilometer pro Jahr.Nach Eschede hat die Bahn bei allen verbliebenen 59 ICE-1-Garnituren die Räder gegen sogenannte Monobloc-Räder - die keinen gummigefederten Reifen haben - ausgetauscht.

JÖRN HASSELMANN

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