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Bestseller: Die Frau an der Kasse

"Im Supermarkt erlebt man die Leute, wie sie wirklich sind“, dachte sich die Supermarkt-Kassiererin Anna Sam und schrieb ein Buch. In Frankreich schnellte der Titel an die Spitze der Bestsellerlisten.

An ihrem letzten Arbeitstag gab es keinen Champagner. Nicht einmal ein Glas Fruchtsaft spendierte die Direktion. So kaufte Anna Sam eine große Tüte Bonbons für die Kolleginnen, mit denen sie während acht Jahren ihren beruflichen Alltag als Kassiererin in einem Supermarkt bei Rennes geteilt hatte: den Stress an den Kassen ebenso wie die Erfahrungen mit den Kunden. Ihnen allen, den freundlichen wie den arroganten, den gedankenlosen wie den rabiaten, die Tag für Tag ihre Kasse passierten, hält sie in einem Buch, das unter dem Titel „Die Leiden einer jungen Kassiererin“ jetzt auch auf Deutsch erscheint, einen Spiegel vor. In Frankreich steht es mit über 100 000 verkauften Exemplaren an der Spitze der Bestsellerlisten.

„Im Supermarkt erlebt man die Leute, wie sie wirklich sind“, sagt die 29-jährige Anna Sam. Sie hatte ihre Erlebnisse zunächst in einem Blog aufgezeichnet und damit Beifall von Kolleginnen und verständnisvollen Kunden erhalten. Dann stürzten sich die Medien auf sie, sie wurde in TV-Sendungen eingeladen, und Verlage rissen sich um die Buchrechte. Demnächst werden noch weitere Übersetzungen ins Englische, Italienische, Spanische, Niederländische und ins Taiwan-Chinesische auf den Markt kommen. Ein Filmprojekt, das auf dem Buch beruht, ist in Vorbereitung. Und auch für ein Theaterstück, das der Regisseur Jackie-Georges Canal in Paris auf die Bühne bringen will, liefert es den Stoff. „Das Casting hat bereits begonnen“, freut sich die Autorin.

„Nicht alle Kunden sind unhöflich“, sagt Anna Sam. „Aber manche sind richtig vulgär. Sie drängeln sich vor, trödeln in letzter Minute vor Ladenschluss mit überladenen Einkaufswagen und vertauschen die Strichcodes an den Artikeln.“ Als schlimmste Erfahrung ist ihr das hochmütige Wort eine Kundin in Erinnerung geblieben, die zu ihrer kleinen Tochter sagte: „Wenn du in der Schule nicht fleißig bist, wirst du wie diese Frau als Kassiererin enden.“

Um ihr Studium der Literaturwissenschaften zu finanzieren, hatte sich Anna Sam wie manche andere Kommilitonin als Supermarktkassiererin verdingt. In dem Job blieb sie auch noch, als sie ihr Diplom an der Universität Rennes in der Tasche, aber keinerlei Aussicht auf eine Anstellung als Lektorin bei einem Verlag hatte. Nach nur einem Monat im Beruf, erzählt sie, habe sie das Gefühl gehabt, mit der automatisierten Kasse eins geworden zu sein, sozusagen deren „Verlängerung“. 15 bis 20 Artikel pro Minute hatte sie zu registrieren, hatte 250-mal pro Tag „bonjour“ und „au revoir“ und 500-mal „merci“ zu sagen. Und das alles mit einem Lächeln.

An ihrer früheren Arbeitsstätte ist Anna Sam gern gesehen. Die alten Kolleginnen sind ihr dankbar, die Chefs begegnen ihr mit Sympathie. Seit Neuestem arbeitet Sam wieder für sie: als selbstständige Beraterin eines Schulungsprogramms, in dem Kassiererinnen trainiert werden, ihr Metier besser zu verkraften.

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