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Panorama: Beverly Sills: Gerechtigkeit für eine Diva

In Europa hat man sie bis heute ungerecht behandelt. Lieber trauerte die Alte Welt noch dem dramatisierten Belcanto der Callas hinterher, berauschte sich am Silberpianissimo der jungen Montserrat Caballé oder bejubelte die Vokalakrobatik einer Joan Sutherland - und nahm Beverly Sills schlichtweg nicht zur Kenntnis.

In Europa hat man sie bis heute ungerecht behandelt. Lieber trauerte die Alte Welt noch dem dramatisierten Belcanto der Callas hinterher, berauschte sich am Silberpianissimo der jungen Montserrat Caballé oder bejubelte die Vokalakrobatik einer Joan Sutherland - und nahm Beverly Sills schlichtweg nicht zur Kenntnis. Selbst einige wenige Auftritte in Europa, unter anderem als Traviata an der Deutschen Oper Berlin, blieben für ihre Reputation weitgehend folgenlos, ihre Opernaufnahmen trugen ihr hierzulande kaum mehr als ein Achselzucken der Kritik und des Publikums ein. Jetzt hat die Universal auf ihrem historisierenden Westminster-Label vier der besten Sills-Einspielungen in blitzsauberem Remastering wieder zugänglich gemacht, die beweisen, dass Europa bei der Missachtung von Amerikas wichtigster Operndiva der siebziger Jahre ein kapitaler Fehler unterlaufen ist.

Denn die 1929 geborene Sills war weit mehr als die stupende Zwitschermaschine mit Doris-Day-Ausstrahlung: Die zwischen 1969 und 1974 entstandenen Einspielungen von Donizettis Königinnen-Trilogie und Bellinis "Puritanern" zeigen vielmehr eine der ganz wenigen Sängerinnen, die den vokalen und expressiven Anforderungen dieser Rollen zugleich gerecht werden konnte. Freilich auf eine Art, die sich denkbar stark vom heroinenhaften Zugang der Primadonnenkonkurrenz unterschied: Die mädchenhaft frische Stimme, mit der Sills diese Partien singt, verleihen ihrer Anna Bolena und Maria Stuarda den Charakter hilfloser, fast naiver junger Frauen, die ihr Bühnenschicksal in vokale Grenzregionen treibt, während ihre alternde Elisabeth I. in Donizettis "Roberto Devereux" eine faszinierend herbe Majestät aufweist, die Jugendlichkeit dieser "Virgin Queen"auf beinahe gespenstische Weise eingefroren scheint. Die blendende Gesangstechnik mit den brillanten Trillern, dem schier endlosen Atem und einer fast überschießenden Beweglichkeit wird nie bloß ausgestellt - Ihre Psychologie-Lektion bei der Callas hatte Sills durchaus gelernt. Ihre Königinnen sind singende, liebende und leidende Menschen, denen bei den kristallscharfen Spitzentönen das Herz im Leib zu zerspringen scheint, die beim Ausloten der tiefen Register ihrer Stimme zugleich in die Kellerräume ihrer Seelen hinabsteigen. Dennoch sind die vier Aufnahmen weit mehr als bloße One-Woman-Shows, wie sie die Sills-Nachfolgerin im Donizetti- und Bellini-Reich, Edita Gruberova seit einigen Jahren munter in Eigenproduktion veröffentlicht. Teilweise erscheint die Besetzungsliste aus heutiger Sicht wie purer Luxus: Selbst in den Nebenrollen brillieren Sänger (wie Robert Lloyd und Gwynne Howell), die bald darauf zur internationalen Spitze gehören sollten. Die Comprimarii vom Range einer glutvollen Shirley Verrett als Seymour und Eileen Farrell als verbitterte Elisabetta in der "Maria Stuarda" erfüllen (bis auf den etwas ältlichen Nikolai Gedda in den "Puritanern") hinreißend die Vorgabe der Diva, die vokale Linie zu elekrisieren.

Beinahe scheint es, als habe sich der 68er-Ruck, der durch die westliche Gesellschaft ging, hier an ganz unerwarteter Stelle niedergeschlagen. Gegenüber dem Brio-Schwung und dem unbekümmerten dramatischen Zugriff, der mit Lifelike-Direktheit aus den Boxen schallt, wirken die Konkurrenzaufnehmen der Sutherland und Caballé wie Plüschsofas neben einer siebziger-Jahre-Garnitur: Als Beweise, dass auch bei den als Leierkastenmusik diffamierten Partituren der italienischen Oper keine Note überflüssig ist und dass jedes Ornament und jeder schlichte Begleitrhythmus genau auf die jeweilige musikdramatische Situation abgestimmt sind. Was auch ein Verdienst der Dirigenten Julius Rudel, Charles Mackkerras und Aldo Ceccato ist, die diese Musik endlich einmal ernst nehmen und zeigen, dass es von Donizetti zu Verdi nur ein kleiner Schritt ist und etwa im "Roberto Devereux" das Vorecho des "Maskenballs" nicht zu überhören ist. Denn es ist auch hier das Orchester, das mit seinen drängenden, brodelnden, träumerischen oder beschwichtigenden Impulsen die Antriebsenergien liefert und als großer Schicksalsstrom im erzromantischen Sinn die Handlung treibt. Und mitten in dem allen, über dem allen Beverly Sills. Man wird sie wohl um Verzeihung bitten müssen.

Jörg Königsdorf

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