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Türkei

© dpa

Blutbad in der Türkei: Familienstreit endet im Massaker

Die Menschen im Dorf Bilge im Südosten der Türkei hatten sich am Montagabend versammelt, um Hochzeit zu feiern: Der Dorf-Imam scharte das Brautpaar und die Gäste um sich zum Gebet. Dann fielen Schüsse. Vier bis fünf vermummte Männer überfielen die Festgemeinde und schossen auf alles, was sich bewegte. 44 Menschen starben.

"Sie sperrten uns in ein Zimmer und fingen an zu schießen", sagte ein 19-jähriges Mädchen, das wie durch ein Wunder überlebte.  Augenzeugen berichteten, die Täter hätten verletzte Opfer mit Kopfschüssen getötet, bevor sie das 250-Seelen-Dorf wieder verließen. Die Kaltblütigkeit und die Brutalität der Angreifer – sie erschossen sogar ein dreijähriges Kind und drei schwangere Frauen – schockte die türkische Öffentlichkeit. Ganze Familien wurden ausgelöscht: Ein Ehepaar starb zusammen mit seinen sechs Kindern. Das Brautpaar und der Imam kamen ebenfalls um.

"Große Männer" seien es gewesen, die das Dorf angegriffen hätte, berichtete ein Junge, der ebenfalls überlebte. Nach der Schießerei habe er seine Mutter gesucht – aber sie sei tot, sagte der Junge unter Tränen. Türkische Medien bezeichneten das Massaker als schlimmstes Verbrechen der jüngeren türkischen Geschichte.

Acht Verdächtige wurden am Morgen nach dem Blutbad gefasst, auch ihre Waffen wurden sichergestellt. Zunächst wurde über eine mögliche Beteiligung der Kurdenrebellen von der PKK an dem Anschlag spekuliert, doch dann gaben die Behörden Details bekannt, die für die Türkei fast noch schlimmer waren: Alle acht mutmaßlichen Täter gehören demselben Clan an wie die Opfer, die meisten von ihnen haben sogar denselben Familiennnamen – Celebi.

Möglicherweise steckt ein Jahrzehnte alter Streit innerhalb des mehrere tausend Mitglieder starken Clans hinter dem Massaker. Türkische Medien zitierten ungenannte Bewohner von Bilge mit den Worten, die Heirat von Sevgi Celebi, der Tochter eines ehemaligen Dorfvorstehers, mit ihrem Cousin Habip Ari aus der nahen Großtstadt Diyarbakir sei innerhalb des Clans höchst umstritten gewesen. Angehörige der Angreifer hätten die Familie von Sevgi aufgefordert, die junge Frau mit einem anderen Mann zu verheiraten, doch dies sei abgelehnt worden. Andere Dorfbewohner berichteten vom Streit um eine Fischfarm.

In Südostanaolien kommt es häufiger vor, dass Familienstreitigkeiten mit der Waffe ausgetragen werden, doch die Dimension des Massakers von Bilge stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Das Massaker sei "der schmerzhafte Preis, den archaischen Sitten den Menschen abverlangen", sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der drei Minister nach Bilge entsandte. Erdogan forderte eine gesamt-gesellschaftliche Anstrengung, um besonders das Bildungsniveau in Südostanatolien anzuheben und die Macht der alten Ehrengesetze zu brechen.

Doch selbst wenn sich der türkische Staat nach vielen leeren Versprechungen nun dazu durchringen könnte, das Kurdengebiet aus seiner sozialen Rückständigkeit zu befreien, wäre das wahrscheinlich nicht genug. "Es ist sehr leicht, an Waffen zu kommen", sagte der Soziologe Rüstem Erkan aus Diyarbakir, ein Experte für Bultfehden. Tausende von Kurden werden vom türkischen Staat mit Waffen ausgerüstet, um gegen die PKK-Kurdenrebellen zu kämpfen.

Bilge selbst wurde am Dienstag von Polizei und paramilitärischer Gendarmerie abgeriegelt, auch um Racheakte nach dem Massaker zu verhindern. Außerhalb des Dorfes begannen Baumaschinen damit, die Gräber für die Opfer auszuheben. Nach islamischem Ritus sollten sie noch am Abend beigesetzt werden.

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