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Panorama: Brutale Diebe machen türkische Städte unsicher Regierungsausschuss sucht nach Lösungen

Ahmet Hakan Canidemir wollte nach Hause, doch er fuhr in den Tod. Der 18-jährige Betriebswirtschaftsstudent aus Istanbul war in einem Vorortzug auf dem Heimweg von seiner Universität in Kocaeli in die Metropole, als er per Handy seine Eltern anrief und damit eine Bande von Jugendlichen auf sich aufmerksam machte.

Ahmet Hakan Canidemir wollte nach Hause, doch er fuhr in den Tod. Der 18-jährige Betriebswirtschaftsstudent aus Istanbul war in einem Vorortzug auf dem Heimweg von seiner Universität in Kocaeli in die Metropole, als er per Handy seine Eltern anrief und damit eine Bande von Jugendlichen auf sich aufmerksam machte. Noch bevor Canidemir aufgelegt hatte, entrissen sie ihm das Telefon. Der Student rannte den Dieben durch die Waggons nach, doch als er sie einholte, wurde er von ihnen verprügelt und dann aus dem Zug geworfen. Im Krankenhaus erlag Canidemir seinen schweren Verletzungen.

Dieser brutale Raubmord ist kein Einzelfall. Die türkischen Großstädte erleben zurzeit eine Welle blutiger Überfälle, bei denen der Wert der meist mageren Beute in keinem Verhältnis zur Gewalt der Täter steht. Jeder, der nur etwas Geld oder ein Mobiltelefon bei sich trägt, ist gefährdet – das heißt: fast alle Türken, selbst die armen. Ein Arbeiter in Istanbul wurde von zwei jungen Männern brutal zusammengeschlagen, die es auf sein Handy und etwa 1,50 Euro Bargeld abgesehen hatten. In Diyarbakir im Südosten der Türkei wurde ein zwölfjähriger Junge, der auf der Straße billige Taschentücher verkaufte, von anderen Teenagern niedergestochen. Die Beute betrug umgerechnet etwa einen Euro.

Für die Türkei, deren Großstädte trotz der Armut vieler Bewohner eigentlich sicherer sind als die Metropolen in anderen Ländern, ist diese Tendenz schockierend. Die Behörden sind angesichts der allgegenwärtigen Gewalt so beunruhigt, dass die zentrale Polizeibehörde zum Beispiel allen Hausfrauen riet, möglichst nicht allein zum Einkaufen zu gehen und sich vor dem Öffnen der Haustür nach verdächtigen Personen umzusehen. Die Regierung in Ankara setzte einen Ausschuss auf Ministerebene ein, der über Möglichkeiten zur Bekämpfung der Gewaltwelle nachdenken soll.

Zumindest teilweise hat sich der türkische Staat das Problem selbst eingebrockt: Zehntausende Straftäter kamen in den vergangenen Jahren durch Amnestie-Gesetze auf freien Fuß. Häufig kommen die gewalttätigen Taschendiebe auch aus den Reihen der etwa 40000 türkischen Straßenkinder. Viele von ihnen sind drogenabhängig, haben keine Hoffnung auf ein besseres Leben und nichts zu verlieren. Zudem haben die Landflucht und das ungebremste Wachstum der Großstädte viele Jugendliche in die Kriminalität getrieben, wie der Soziologe Halil Nalcaoglu der Zeitung „Cumhuriyet“ sagte. Nalcaoglu spricht von „neuer Armut“ und Identitätsverlust: Viele Bewohner der Elendsviertel rund um Istanbul, Ankara oder Izmir sind arbeitslos und haben die Bindung zu ihren Heimatorten verloren. In der Türkei fängt kein soziales Netz diese Menschen auf.

So bleiben nur härtere Strafen: Wenn das neue türkische Strafrecht im April in Kraft tritt, kann Taschendiebstahl erstmals als eigener Straftatbestand geahndet und bei Gewaltanwendung sogar mit lebenslanger Haft bestraft werden.

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