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Update

Busunglück in der Schweiz: Schwer verletzte Kinder schweben noch in Lebensgefahr

Am Tag zwei nach dem schweren Busunglück in der Schweiz müssen viele Eltern einen schweren Gang antreten. In Sitten werden Angehörige zu ihren toten Kindern gebracht. Drei der 28 Leichen müssen noch identifiziert werden.

Die belgische Regierung hat am Donnerstag bei einer Sondersitzung über den Heimtransport der 28 Toten und 24 Verletzten des Busunglücks in der Schweiz beraten. Nach Angaben von Gesundheitsministerin Laurette Onkelinx sind unter den verletzten Kindern noch vier Schwerverletzte, davon drei in einem „kritischen“ Zustand. In Sitten im Wallis wurden Angehörige zu den Toten gebracht - unter anderem, um die letzen Opfer zu identifizieren. Derweil ging die Suche nach der Unglücksursache weiter.

Zahlreiche Kinder könnten bereits am Donnerstag entweder vom belgischen Militär oder von Rettungsflugzeugen der Versicherungsgesellschaft nach Hause gebracht werden, sagte Ministerin Onkelinx. Von den 22 toten Kindern und den sechs toten Erwachsenen seien drei noch nicht identifiziert: „Wegen der Gewalt des Aufpralls gibt es Probleme bei der Identifizierung.“ Die Ermittler in der Schweiz hoffen, dass die Angehörigen bei der Erkennung helfen können. Am Donnerstag sollten Mütter, Väter und andere Familienmitglieder in einer Leichenhalle in Sitten die sterblichen Überreste sehen, sagte ein Sprecher der Kantonspolizei im Wallis. Falls es nicht möglich ist, auch die letzten Toten am Aussehen oder an den Kleidern zu erkennen, werde eine DNA-Analyse in Auftrag gegeben.

Zumindest die Toten, bei denen die Namen bereits feststehen, können nach belgischen Angaben rasch in die Heimat geflogen werden. Die Regierung hat zwei Transportflugzeuge des Typs C-130 von einer Übung in Portugal abgezogen und in die Schweiz beordert. Die Regierung wollte am Donnerstag in Brüssel auch über die Gestaltung eines Tages der nationalen Trauer entscheiden.

Experten wollten das völlig zerstörte Buswrack untersuchen, um nähere Erkenntnisse zum Unfallhergang zu erhalten. Zudem soll geklärt werden, ob eine plötzlich auftretende Krankheit des Busfahrers zu dem Unfall geführt hat. „Die Leiche des Busfahrers wurde für eine Autopsie nach Lausanne gebracht“, sagte der Polizeisprecher. Mit Ergebnissen werde aber erst in den nächsten Tagen gerechnet.

Die Bergung des verunglückten Busses wurde für die Rettungskräfte zum Wettlauf gegen die Zeit.

Hosen, Jacken, Mützen, Handschuhe liegen verstreut auf der dunklen Fahrbahn. Die meisten Kleidungsstücke haben Kindergröße. Zerfetzte Reisekoffer stehen daneben. Das gleißende Licht der Ambulanzen flutet den Tunnel, Rettungshelikopter heben ab, es heulen Sirenen.

In der Nacht zum Mittwoch kämpften rund 200 Schweizer Ärzte, Sanitäter, Polizisten und Feuerwehrmänner gegen die Zeit: Ein belgischer Bus mit 52 Schülern und Lehrern war auf der Autobahn 9 bei Siders in Richtung Sitten im südlichen Schweizer Kanton Wallis schwer verunglückt. Die Passagiere wollten vom Winterurlaub in den Schweizer Bergen in die Heimat zurückkehren. Doch am Dienstag um 21 Uhr 15 prallte der Bus gegen eine Tunnelmauer. Für mehr als die Hälfte der Insassen kam jede Hilfe zu spät: 28 Menschen starben: 22 davon Kinder, alle um die zwölf Jahre alt. Vier Lehrer und die beiden Busfahrer kamen ebenfalls ums Leben. Die anderen 24 Reisenden erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Die meisten Todesopfer und Verletzten kamen aus Belgien, auch einige Niederländer verunglückten. Unter den Verletzten ist laut Auswärtigem Amt auch ein deutscher Jugendlicher.

Der Zürcher Tagesanzeiger zitiert auf seiner Website ein überlebendes Mädchen: „Die Sitze flogen umher, plötzlich fand ich mich eingeklemmt zwischen zwei Sitzen wieder.“ Die 12-Jährige brach sich bei dem Unfall beide Beine und einen Arm. Andere Kinder, die aus dem Wrack geborgen wurden, konnten nichts sagen. Der Schock hatte sie verstummen lassen.

Die Retter mussten die Seitenteile des zertrümmerten Gefährtes aufschneiden, um zu den Toten und Versehrten zu gelangen. Ein Retter, Alain Rittemer, sagte einem französischen Sender: „Es übersteigt alles vorstellbare. So etwas habe ich in meinen 20 Jahren beim Notfalldienst noch nie erlebt.“ Andere Helfer kämpften mit den Tränen – vor allem der grausame Tod so vieler Kinder schockte die Männer. „Eine Tragödie dieses Ausmaßes hat es im Wallis noch nie gegeben“, bilanzierte der Chef der Kantonspolizei, Christian Varone. Und im gesamten Alpenraum haben die Menschen seit dem Feuer im Mont Blanc-Tunnel Ende der Neunziger Jahre, bei dem 39 Menschen umkamen, eine vergleichbare Tragödie nicht mehr beklagen müssen.

Im November 2010 gab es ein ähnliches Unglück in Deutschland:

Von Belgiens König über den EU-Kommissionspräsidenten bis zum Schweizer Parlament kommen Mitleidsbekundungen für die Angehörigen. Viele von ihnen wussten mehr als zwölf Stunden nach dem Horrorcrash noch nicht, ob ihre Liebsten tot waren oder ob sie sich verletzt hatten. Denn die Identität vieler verstorbener Kinder konnte lange nicht geklärt werden, die Leichen waren zu stark verstümmelt. Am Mittwoch trafen Väter, Mütter und andere Angehörige der Opfer in der Schweiz ein. Auch Premierminister Elio Di Rupo reiste zum Unglücksort.

Warum verlor der Fahrer die Kontrolle über den Bus?

Viele Fragen blieben zunächst unbeantwortet. Vor allem: Warum verlor der Fahrer die Kontrolle über den Bus? „Ich kann den Unfall nicht nachvollziehen“, sagte der Bürgermeister von Anniviers, Simone Epiney. In Anniviers hatten die Mädchen und Jungen aus den flämischen Orten Lommel und Heverlee mit ihren Lehrern den Winterurlaub verbracht.

Nach Angaben des Pressesprechers der Walliser Kantonspolizei, Renato Kalbermatten, könnte sich der Unfall folgendermaßen ereignet haben: „Nach ersten Erkenntnissen hat der Fahrer die Herrschaft über das Fahrzeug verloren und einen Randstein touchiert und ist danach frontal in eine Nothaltestelle des Tunnels geprallt.“ Die Frontseite des Gefährts wurde komplett zerstört, die Passagiere in diesem Bereich hatten keine Chance. Aus dem hinteren Teil flogen vermutlich Menschen nach vorne. Mehr als zwanzig Stunden nach der Katastrophe präsentierte der Schweizer Ermittlungsrichter Olivier Elsig weitere Erkenntnisse: „Der Bus fuhr nicht zu schnell“, sagte er. Kein anderes Fahrzeug habe eine Rolle gespielt, die Straße sei nicht schadhaft gewesen. Die Behörden ermitteln jetzt in drei Richtungen: Hatte das Fahrzeug einen technischen Schaden? Litt der Fahrer unter Gesundheitsproblemen? Lag schlicht menschliches Versagen vor?

Wie die belgische Regierung bestätigte, waren die beiden Busfahrer der Gesellschaft Toptours aus dem flämischen Aarschot am Montagabend in dem Ferienort der Schüler eingetroffen. Offensichtlich legten die beiden Männer den vorgeschriebenen Ruhetag ein. Als die Fahrer am Dienstagabend zu der verhängnisvollen Fahrt aufbrachen, dürften sie nicht übermüdet gewesen sein. Nach Angaben des belgischen Außenministers Didier Reynders begleiteten zwei weitere Busse das Unglücksfahrzeug, sie aber setzten ihre Fahrt fort. Warum die Begleitfahrzeuge nicht stoppten, blieb unklar. Belgische Regierungskreise betonten den „exzellenten Ruf“ der Bus-Firma Toptours. Das Unglücksfahrzeug habe der „neuesten Generation“ gehört und über alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen verfügt. Firmenfahrer müssten eine spezielle Ausbildung für winterliche Berggebiete absolvieren. Doch diese Erklärungen können die Familie nicht trösten.

Die vermutlich letzten Lebenszeichen vieler verstorbener Kinder fanden sich auf einem Blog. Über den Internetbotschafter versorgten die Schüler ihre Eltern mit Urlaubsnachrichten. Ein Schüler aus Heverlee schrieb: „Liebste Mama und Papa, es ist sehr cool. Das Essen ist sehr lecker. Es funktioniert alles sehr gut beim Skifahren. Aber ich vermisse euch so sehr.“ Der Blog ist jetzt nicht mehr zugänglich.

Jan Dirk Herbermann

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