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10.10.2010: Noch immer harren Angehörige der verschütteten Minenarbeiter in Chile an der Unglücksstelle aus. Sie wollen die 33 Männer in Empfang nehmen, sobald sie gerettet sind.

© dpa

Chile: Rettung der Bergleute ist zum Greifen nah

Nach mehr als zwei Monaten könnten die 33 eingeschlossenen Männer in dieser Woche befreit werden. Vor dem Bergwerk warten Angehörige und Journalisten ungeduldig auf den Moment. Wie ist die Stimmung?

Es war möglicherweise der emotionalste Tag in der Geschichte des Dramas von Copiapo. Als am Samstag der Bohrer T-130 Schramm endlich den Durchbruch zu den 33 eingeschlossenen Bergleuten in der chilenischen Gold- und Kupfermine San Jose geschafft hatte, gab es kein Halten mehr. Wie kleine Kinder auf dem Schulhof stürmten Rettungsteams und wartende Familienangehörige aufeinander zu. Umarmungen, Küsse, Freudentränen – die Erleichterung nach mehr als 66 Tagen voller Ungewissheit, Geduld und Angst war riesig. Die in 624 Metern Tiefe eingeschlossenen Bergleute reagierten geradezu poetisch auf den Niederschlag aus Gestein, Wasser und Schlamm, als der Bohrer die Decke durchstieß: „Wir fühlten uns wie Kinder, auf die es Süßigkeiten regnet“, dichtete einer der von ihnen unter Tage, wie auf einem Regierungsvideo zu hören ist. Nun ist die Rettung der Verschütteten zum Greifen nahe.

Der langwierigste Teil der Bergungsaktion ist abgeschlossen, die Bohrung eines Rettungsschachts in den Rückzugsraum der 33 Männer. Zwei weitere parallel laufende Bohrungen laufen trotzdem weiter. Sollten unerwartete Probleme mit dem ersten Schacht auftauchen, könnten die anderen als Ausweichlösungen dienen. Durch den nun fertiggestellten 70 Zentimeter breiten Kanal sollen die Bergleute einer nach dem anderen ans Tageslicht befördert werden. Wann das genau geschieht, ist unklar. Bergbauminister Laurence Golborne gab zwar als neues Bergungsdatum den Mittwoch bekannt, doch mit der Haltbarkeit dieser Prognosen ist es so eine Sache. Fast täglich gibt es aus dem Regierungslager neue, widersprüchliche Angaben zum exakten Bergungstermin. Andre Sougarret (47) hatte das kommen sehen: Der besonnene Chefingenieur warnte als Leiter der Rettungsaktion immer wieder vor übertriebenen Erwartungen. Doch das hören Verzweifelte nicht so gerne.

Dem Freudentaumel folgten stundenlange Beratungen über das weitere Vorgehen. In einer Expertenrunde analysierten die Ingenieure das weitere Vorgehen. Die wichtigste Entscheidung der Nacht: Der fertige Rettungsschacht muss nicht mit Stahlröhren ausgekleidet werden. Bilder einer in die Tiefe geschickten Kamera haben ergeben, dass nur die ersten hundert Meter des Kanals Schwierigkeiten machen könnten. Die größte Furcht der Retter ist, dass einer der Männer während der Fahrt in die vermeintliche Freiheit plötzlich mit der engen Kapsel im Schacht hängenbleibt und womöglich für Stunden oder gar Tage darin festsitzt.

Unterdessen bereitet sich ganz Chile auf den Freudentag vor. Staatspräsident Sebastian Pinera kündigte an, ab Dienstag persönlich die Rettungsarbeiten vor Ort begleiten zu wollen. Eine bevorstehende Europareise wird deshalb wohl verlegt werden. First Lady Cecila Morel ist bereits seit Freitag im „Lager der Hoffnung“. Sie begleitet den jungen Bergbauminister Laurence Golborne zu jeder Pressekonferenz. Golborne ist so etwas wie der große Gewinner des Dramas in der Atacama-Wüste. Seine täglichen Pressekonferenzen verfolgen die Chilenen wie sonst nur die in Lateinamerika populären Telenovelas. Folgerichtig widmete die Tageszeitung „El Mercurio“ dem gut aussehenden Politiker am Sonntag in ihrem Magazin eine Titelgeschichte. „Ich bin kein Held“, versichert Golborne mit gedankenverlorenem Blick und vertraut den Lesern an, die vergangenen zwei Monate hätten sein Leben verändert.

Damit steht Golborne nicht alleine. Psychologen, die im Lager der Hoffnung umherschwirren, versichern, den Männern werde es nach ihrer Befreiung besser gehen als vorher. Die Prognose überrascht nicht wirklich: Einnahmen aus Filmrechten, Büchern, Talkshow-Einladungen und Homestorys dürften den bislang kargen Bergarbeiterlohn von durchschnittlich 800 Euro deutlich übersteigen. Und für die Einschätzung, dass die Männer nach zwei Monaten in Dunkelheit und Hitze das neue Leben zu schätzen wissen, ist nicht unbedingt ein Psychologiestudium notwendig.

Für die Angehörigen wird das Warten allerdings immer nervenaufreibender. Je näher die eigentliche Bergung rückt, desto langsamer vergehen die Stunden. Die Familien lösen diese schier unmenschliche Geduldsprobe auf ihre Art. Einige geben Interviews wie am Fließband, andere ziehen sich in die Stille ihrer kleinen Zelte zurück. Ein zugezogener Reißverschluss signalisiert der wartenden Medienmeute: Jetzt nicht, bitte keine Interviews.

Andere erzählen von ihren Zukunftsplänen. Cristina Nunez, Freundin von Bergmann Claudio Yanez, träumt bereits von einer Hochzeit ganz in Weiß. „Das ist mein Traum und danach sehen wir weiter.“ Es wird keine Hochzeit im engsten Familienkreis werden. Denn schon jetzt planen die chilenischen Boulevardzeitungen Reportagen über das „Leben danach“. Fotos einer glücklichen Hochzeit nach diesem Drama werden sich mit Sicherheit gut verkaufen.

Vielleicht ahnen die Familien bereits, was nach einem tatsächlich guten Ende auf sie zukommen wird. „Alles was wir wollen, ist, dass wir bald wieder zusammen sind. Wenn mein Bruder endlich wieder in Freiheit ist, werden wir ein großes Familienfest vorbereiten“, sagt Maria Segovia, die von den chilenischen Medien wegen ihrer resoluten Art zu einer Art Bürgermeisterin des täglich wachsenden Dorfes an der Mine gekürt worden ist. Bruder Dario soll im Kreise der Familie so schnell wie möglich wieder an die Normalität gewöhnt werden. Ob das so einfach gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Marias Hoffnung klingt ein klein wenig auch wie eine verzweifelte Bitte: „Wir wollen doch einfach nur unser normales Leben zurück.“

Angela Reyes

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