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Panorama: "Cinema naturale": Am Rand des Seelenlochs

Die Welt ist beklemmend und grau. Ein junger Mann reist nach Amerika, um etwas zu erleben und hat pausenlos Ärger, ein Arzt spürt einer obskuren Frauenstimme nach und verliert darüber sich selbst, auf der Suche nach echten menschlichen Begegnungen warten zwei Studenten monatelang auf einen weltberühmten Forscher und müssen eine Enttäuschung hinnehmen, ein Krankenpfleger vergeudet seine Zeit mit drittklassigen Affären und scheitert an dem Vorhaben, ein Heiliger zu werden.

Die Welt ist beklemmend und grau. Ein junger Mann reist nach Amerika, um etwas zu erleben und hat pausenlos Ärger, ein Arzt spürt einer obskuren Frauenstimme nach und verliert darüber sich selbst, auf der Suche nach echten menschlichen Begegnungen warten zwei Studenten monatelang auf einen weltberühmten Forscher und müssen eine Enttäuschung hinnehmen, ein Krankenpfleger vergeudet seine Zeit mit drittklassigen Affären und scheitert an dem Vorhaben, ein Heiliger zu werden.

Unwägbarkeiten der Psyche

"Cinema naturale" überschreibt Gianni Celati seinen neuen Erzählband, denn hinter alltäglichen Begebenheiten verbirgt sich für den italienischen Schriftsteller besseres Kino als es ein Hollywoodstreifen jemals bieten könnte. Natürlich handelt es sich dabei um Celati-Kino, natürlich sind seine Helden Celati-Gestalten, versponnene Typen mit komischen Angewohnheiten, die dem täglichen Einerlei entkommen wollen, einer Obsession verfallen und sich immer tiefer verstricken in die Unwägbarkeiten der eigenen Psyche. Als wäre das nicht genug, werden ihnen außerdem noch Erfahrungen surrealer Art zugemutet. An einem bestimmten Punkt lässt der italienische Schriftsteller seine Studenten, Bettler und Reisenden regelmäßig in phantastische Schattenreiche abgleiten, die jenseits der rational erfahrbaren Welt liegen und nach anderen Gesetzen funktionieren. Oder findet alles nur im Kopf seiner Helden statt?

Zum Beispiel bei jenem Arzt aus der Erzählung "Nachrichten für Seefahrer". Auf einer Segeltour mit Freunden hört er eines Nachts die Stimmen zweier Frauen, offensichtlich Mutter und Tochter, die sich über die Nierenkrankheit der Jüngeren unterhalten und aus Geldnot keine Abhilfe schaffen können. Tief getroffen von der Reinheit der Stimmen, beginnt der Mediziner diese Frauen zu suchen. Monatelang fährt er die Küste ab, frequentiert eine Kartenlegerin und eine Chiromantin, stößt schließlich in einer stillgelegten Fabrik auf eine schwarzgekleidete Mutter samt erwachsener Tochter. Die ersehnte Frau entpuppt sich als fetter Koloss, die ihre Tage im Bett verbringt, nie ein Wort sagt und statt an einem Nierenleiden an Gallensteinen elaboriert. Die Absurdität wird noch gesteigert. Obwohl er unwillkommen ist, übernimmt der Arzt die medizinische Behandlung, versorgt die beiden mit Geld und Geschenken, zieht bei ihnen ein und wird zum Sklaven der alten Mutter, bis er eines Tages selbst erkrankt.

Wie ein uneingelöstes Versprechen hat sich die mysteriöse Stimme im Ohr des Arztes festgesetzt und wird zur treibenden Kraft seines Lebens. Je dringender er sie sucht, desto mehr gewinnt sie an Schönheit, so als verkörpere sie sämtliches Glück, von dem er wenigstens einen Zipfel erhaschen will, auch wenn er sich dabei ruiniert. In Celatis Erzählungen sind sich die Menschen ein Rätsel: Der Student Enrico aus "Die Novelle von den zwei Studenten" empfindet seine Seele als ein gurgelndes Loch, das jeden Gedanken verschluckt. Aus diesem Loch bläst ein Wind, der einen antreibt und Dinge tun lässt, deren Sinn man nicht versteht.

Neun Mal variiert Celati in "Cinema naturale" ähnliche Schicksale - denn trotz der Verschiedenartigkeit der Geschichten geht es immer um Sehnsüchte und fixe Ideen, um den Versuch, ein festgefahrenes Lebensmuster zu durchbrechen und die Zwangsläufigkeit, mit der man sich neue Gefängnisse konstruiert. Die Erzählungen kommen leichtfüßig und plaudernd daher. Hinter den phantastisch oder surreal anmutenden Wendungen stecken Wahrheiten, die sich wie Widerhaken im Kopf des Lesers festsetzen und beunruhigend wirken.

Der Kern vieler merkwürdiger Verstrickungen ist nämlich eine tieftraurige Erkenntnis: Meistens verpassen die Menschen ihr Leben und werden nicht Herr ihrer Wünsche, obwohl sie alles daran setzen, sie zu verwirklichen. Manchmal allerdings blitzt so etwas wie Hoffnung auf, kleine bescheidene Glücksmomente, die Celatis Gestalten von sich selbst erlösen, sei es auch nur für Sekunden. Da trifft ein alter Italiener mitten in Afrika eine schwarze Frau in türkisem Gewand, deren Lächeln seinen Kummer, auf der Welt zu sein, plötzlich vertreibt. In der Erzählung "Mit dem Paradies ist es vorbei" greift die Unterredung, die ein Bettler angeblich mit Gott hatte, einigen Zeugen so sehr ans Herz, dass sie sich plötzlich der Falschheit ihres eigenen Daseins bewusst werden und alles umschmeißen, wenigstens für eine Weile.

Meistens verbreiten Celatis Geschichten die Melancholie eines Herbstabends. Abgemildert ist die Traurigkeit durch Übertreibungen, Parodien, verzerrte Beschreibungen. So trägt sich der Held der ersten Erzählung namens Giovanni mit dem Plan, seine Amerikareise in einem langen Brief nach Hause zu Papier zu bringen, findet aber nie einen Stift, obwohl er alles nur im Hinblick auf die Erzählbarkeit erlebt. Am Ende formuliert er schließlich ein lapidares Telegramm, in dem "bin angekommen" steht.

Auch die eigene Erzählerschaft inszeniert der Schriftsteller aus Bologna wie einen Bänkelsang: "Diese Geschichte handelt von einem Arzt, der jeden Sonntag mit einem Freund segeln ging" beginnt er, oder "In der Geschichte geht es so, dass dieses Model an einem bestimmten Strand der Welt gelandet war, wie viele andere auch". Oft mischt er sich ein, kommentiert das Geschehen, spricht den Leser direkt an und sagt Dinge wie "und dann begeben sie sich auf Abenteuer, die mich hier nicht interessieren", um mit einer anderen Episode fortzufahren.

Gestus des Jahrmarktsängers

Bereits in seiner Sammlung "Erzähler der Ebenen" (Wagenbach 1986) hatte Celati diesen Gestus des Jahrmarktsängers erprobt, der von den Kuriositäten seiner Reisen berichtet und diese in mal rätselhafte, mal phantastische Geschichten verpackt. Der Autor imitiert eine mündliche Erzählform, die typisch für seine Wahlheimat Emilia Romagna ist und sich auch bei Luigi Malerba und Ermanno Cavazzoni, beide aus derselben Gegend gebürtig, in ihren Bänden "Die Entdeckung des Alphabets" und "Gesang der Mondköpfe" findet. Geschickt überspielt Celati auf diese Weise die Dichte der literarischen Bezüge. Denn Shakespeare, Swift, Dante und Ariost lugen auf jeder dritten Seite hervor.

Mit dem Leser zu kommunizieren und ihn teilhaben zu lassen an der Entstehung einer Geschichte, galt für Celati zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere noch als Anbiederung. Wie Luigi Malerba, Giorgio Manganelli und Italo Calvino hatte er bis Mitte der siebziger Jahre den ästhetischen Prinzipien des gruppo 63 angehangen, einer neoavantgardistischen Strömung. In seinen ersten Romanen verwendete er noch ein von Céline inspiriertes Sprachmagma: aufgelöste Syntax, eine Flut von Neologismen, die Vermischung verschiedener Stilebenen. Er sah seinen liebenswert-chaotischen Helden beim Denken zu und zwang den Leser, sich den Rest selbst zusammenzureimen. Aber das anarchistische Spiel mit Sprachnormen war für ihn schon Ende der Siebziger ausgereizt. Stattdessen schaute Celati seinen Landsleuten aufs Maul und ahmte mündliche Erzählformen nach.

Einem imaginären Du, das immer wieder nachhakt und Fragen stellt, wird "Die Geschichte des Models" erzählt, eine der schönsten des Bandes. Durch die vielen Fragen bekommt sie einen ganz eigenen Rhythmus: "Wessen Erfolg?" wundert sich das Du, "Den Erfolg des Models" erklärt der Erzähler, "Die Fuzzis?" will die Stimme wissen, "Ja, Freunde des Models" lautet die Antwort, "Vor wie vielen Jahren?" forscht der Angesprochene nach, worauf entgegnet wird: "Ach, damals war ich jung, in der Zeit, als man noch an Reisen glaubte".

Gesten statt Sprache

"Die Geschichte des Models" spielt in Amerika, wo der Held dem reichen Herrn Fuzzi die Gesänge der "Göttlichen Komödie" erklären muss und miterlebt, wie eine Frau an der Scheinhaftigkeit des Seins zerbricht. Das Model Armanda ist so etwas wie eine menschliche Leerstelle. Aufgewachsen bei einer Tante in Italien hatte sie niemals Sprechen gelernt, sondern sich mit Gesten verständigt. Wegen ihrer Schönheit begann sie als junge Frau, die Sprache, die Bewegungen, die Gesten eines Fotomodells zu imitieren, ohne überhaupt je zu einer eigenen Person geworden zu sein. Kaum ist sie berühmt und in sämtlichen Magazinen abgebildet, wird sie verrückt. Zusammen mit dem Versicherungsbeamten Baruch, dessen Vorname nicht zufällig auf Spinoza verweist, recherchiert der Held das Schicksal des Models. Es wird für schuldig befunden, und am Ende stellt sich der Erzähler vor, wie ein Jüngstes Gericht heute aussehen könnte. Verrücktheiten, Bizarrerien und Spinnereien, das scheinen Celatis Geschichten auf den ersten Blick zu sein. Es sind philosophische Erzählungen über die Natur des Menschen - "Cinema naturale" wie man es sonst nirgends gucken kann.

Maike Albath

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