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Panorama: Concorde: Eine unmenschliche Aufgabe - Die Bergung der Leichen

Noch in der Dunkelheit, viele Stunden nach der Katastrophe, qualmt das Wrack. Von dem kleinen, hölzernen "Hotelissimo", auf das die Concorde-Maschine abgestürzt war, ragen ein paar verkohlte Balken in die Höhe.

Noch in der Dunkelheit, viele Stunden nach der Katastrophe, qualmt das Wrack. Von dem kleinen, hölzernen "Hotelissimo", auf das die Concorde-Maschine abgestürzt war, ragen ein paar verkohlte Balken in die Höhe. Das Hotel-Schild, das in Leuchtbuchstaben Touristen von der Schnellstraße anlocken sollte, ist nur noch ein blecherner Rahmen. In dem Trümmerhaufen liegen die verkohlten Leichen von 113 Menschen. Ein makaberes Bild.

Die ganze Nacht lang haben Rettungsleute, Mediziner und juristische Fachleute nach Überlebenden gesucht. Sie hatten Anweisung, für die spätere Identifizierung Habseligkeiten, Kleidung, Schmuck oder Brieftaschen zwischen den Resten der abgestürzten Maschine sicherzustellen.

Auch die Feuerwehr hat im beißenden Rauch gearbeitet. "Erst ist alles nur schwarz. Es ist heiß. Und dann erkennt man in dem Trümmerberg die zerbrochene Nase der Concorde", berichtet einer der insgesamt etwa 800 Helfer. Ein paar mühsame Schritte weiter ist ein Teil des Cockpits zu erkennen. "Manche Leichen sind verkohlt, andere stark aufgequollen. Hier und da liegen einzelne Schuhe herum, Bücher, Teile von Koffern, an denen Flammen züngeln."

Ein anderer Helfer kann am frühen Mittwochmorgen, blass und übernächtigt, nur das Elend beschreiben. "Mir war die ganze Nacht kotzübel. Ich musste immerzu Wasser trinken. Was ich sah, war entsetzlich!" Neben ihm haben Ärzte aus Pariser Unfallkliniken gearbeitet. "Aus diesem Chaos-Klumpen Überlebende zu bergen", stößt der Feuermann hervor, "dafür brauchst du starke Nerven."

Dann kommt der erste Leichenwagen. "So einen Einsatz habe ich noch nie erlebt. Ich habe ganz schön Angst", sagt ein Bestatter. In schwarzer Hose, weißem Hemd und schwarzer Krawatte läuft er nervös um den Wagen herum. "Eigentlich hätten die Bestattungsinstitute der gesamten Region gerufen werden müssen." Später werden einige der Toten zu einer provisorisch eingerichteten Trauerkapelle gebracht.

"Das Schwierigste ist es", sagt Patrick Saoulle, "die richtigen Worte zu finden." Saoulle ist einer von etwa 100 Helfern, die sich auf dem Flughafen Charles de Gaulle um die Angehörigen der Opfer kümmern. Im VIP-Saal von Air France werden die Familien von Psychologen und Medizinern betreut. "Es ist das Mindeste, was wir tun können", meint Air-France-Sprecher François Brousse. Die Fluggesellschaft, der die Concorde gehörte, hat Anreise und Unterkunft für die Familien der insgesamt 113 Opfer organisiert, von denen die meisten aus Deutschland stammen.

Sprachschwierigkeiten gibt es nicht. Die Air France hat ausreichend deutschsprachiges Personal. Außerdem ist die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung enorm: Mehrere Franzosen hätten angerufen, heißt es in der deutschen Botschaft in Paris, und spontan Übersetzerdienste angeboten.

Eine schreckliche Aufgabe für die Angehörigen der deutschen Opfer: Sie müssen ihre Familienmitglieder im Gerichtsmedizinischen Institut von Paris identifizieren. Hunderte Hinterbliebene waren am Morgen und am Mittag mit Sondermaschinen der Air France in der Metropole eingetroffen. Über 50 Leichen liegen aufgebahrt in dem grauen Gebäude - verkohlte und verstümmelte Menschenteile. "Das ist ein unmenschliches Unternehmen, die Identität dieser Leute zu ermitteln", stöhnt ein Bergungsexperte des Flughafens von Roissy. Von 80 Passagieren konnten bislang Namen und Herkunft festgestellt werden, sagt Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt, der in der Nacht in Roissy eingetroffen war.

Viele werden nur anhand des Gebisses identifiziert werden können. 50 Frauen, 46 Männer und drei Kinder kamen um, die meisten aus Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Frankfurt. Bis zuletzt hatten sie von ihrer 14-tägigen Urlaubsreise auf einem Luxusschiff von New York nach Südamerika und Australien geträumt.

Zunächst werden die Deutschen, viele mit Tränen in den Augen, in den Transitsaal II geleitet. Es gibt eine Stärkung. Psychologen bieten Unterstützung an. Krankenschwestern hielten sich diskret im Hintergrund. Air-France-Sprecher Brousse stellt spontan finanzielle Unterstützung in Aussicht. "Wir werden alles tun, um schnell und unbürokratisch zu helfen." Dann werden die Familienmitglieder, viele mit Fotos in der Hand, in die "Krisenzelle" Nummer eins geführt. Eine zweite "Krisenzelle" steht den Hinterbliebenen der neun französischen Besatzungsmitglieder zur Verfügung.

Weniger als 30 Sekunden trennten den Pariser Vorort Gonesse und seine 25 000 Einwohner von der Katastrophe. Die brennende Concorde raste auf das Stadtzentrum und ein in der Flugbahn gelegenes Krankenhaus zu. Nur mit letzter Kraft drehte sie ab und stürzte auf ein Hotel, das auf dem einzigen freien Feld stand. "Der Pilot ist ein Held. Hätte er nicht abgedreht, hätte er die Stadt getroffen", meint ein Lastkraftwagenfahrer. Er hatte vom Frachtbereich des Flughafens den Todeskampf der Piloten gegen ihr Schicksal und das der Passagiere mitverfolgt.

Die Rolle der Cockpit-Besatzung bewegte am Tag nach dem Desaster die Gemüter in Gonesse. Die erfahrenen Piloten müssen gewusst haben, dass sie keine Chance mehr hatten, als ihnen der Towerlotse unmittelbar nach dem Abheben von der Piste 21 einen Triebwerk-Brand meldete. Ein Startabbruch der bis zum Rand mit Kerosin betankten, 185 Tonnen schweren Maschine wäre in diesem Moment bei Tempo 360 unmöglich gewesen. Hundertfach hatten die Piloten solche Zwischenfälle im Simulator geübt. Der Co-Pilot hatte als Ausbilder für den "Jet der Superlative" damit einst sogar selber seine Kollegen ins Schwitzen gebracht.

Auch Ärger, Frust und Wut haben sich in Gonesse aufgestaut. Der Bürgermeister lässt Dampf ab: "Das geht nicht mehr. 500 000 Flugbewegungen im Jahr!" Hunderte Maschinen donnern täglich über das Dorf. Das Nachtflugverbot werde nicht mehr eingehalten, der Flughafen Charles de Gaulle werde immer größer, jetzt sei sogar eine dritte Piste geplant. "Das wird alles noch schlimmer hier." Eine Antwort auf die Frage, ob die sechs Concorde-Jets von Air France weiter eingesetzt würden, erhält Gonasse von Verkehrsminister Jean-Pierre Gayssot wenige Stunden nach dem Protest: "Die Zukunft von Concorde steht nicht zur Debatte!"

Am Mittag wird eine Untersuchungskommission eingesetzt. Ihre Mitglieder sollen Flugschreiber und Stimmenrecorder auswerten. Spätestens am Freitag könnte bekannt werden, ob Techniker, die die Concorde vor dem Start noch reparierten, fahrlässig gehandelt haben. Staatspräsident Jacques Chirac hat ausdrücklich darum gebeten, das schlimmste Flugzeugunglück seit 30 Jahren in Frankreich zügig aufzuklären.

Doch selbst in diesem Inferno gibt es ein kleines Wunder. Eine bereits totgeglaubte Britin hat den Absturz in Gonesse überlebt. Die Studentin Alice Brooking entkam den Flammen, weil sie rechtzeitig aus dem Hotelfenster im ersten Stock gesprungen war. Sie habe Krach "wie bei einem Erdbeben" gehört, sagte die 21-Jährige. Ihr Zimmer habe zu wackeln begonnen, vor der Zimmertür habe bereits alles in Flammen gestanden. "Überall war Rauch, und die Hitze war wie in einem Ofen." Der Hotelpförtner habe ihr zugerufen "Spring!". Daraufhin sei sie aus dem Fenster gesprungen und so weit gelaufen, wie sie konnte. Alice Brooking lebt, 113 andere sind tot.

Lutz Hermann

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