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Der Auslöser: Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan kam Ende der fünfziger Jahre auf den Markt.

© Frank Leonhardt/dpa

Contergan-Skandal vor 60 Jahren: Was man gelernt hat - und welche Probleme geblieben sind

Es sollte Schwangeren das Leben erleichtern und führte zu schwerwiegenden Fehlbildungen bei Embryos: das Medikament Contergan.

Die Frauen nahmen es gegen Übelkeit. 30 Pillen für 3,90 Mark. Es wirkte, machte ihnen den Alltag leichter. Aber es schädigte das Kind in ihrem Bauch – ohne, dass sie es ahnten. „Der Contergan-Skandal hat sich in die Köpfe der Menschen eingebrannt“, sagt die Ärztin Katharina Dathe. „Das war der Beginn der Zeit, als man sich mit der Sicherheit der eingesetzten Medikamente beschäftigte.“ Dathe berät am Institut Embryotox schwangere Frauen zu den Gefahren von Arzneimitteln. Seit 26 Jahren gibt es den Telefondienst, inzwischen wird der Service vom Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Charité betrieben.

Am 1. Oktober 1957 brachte die Pharmafirma Grünenthal den Wirkstoff Thalidomid als Schlaf- und Beruhigungsmittel „Contergan“ rezeptfrei auf den Markt und löste damit einen der größten Medikamenten-Skandale der Nachkriegsgeschichte aus.

Embryos erlitten schwere Fehlbildungen

Das Medikament führte bei Embryos zu schweren Fehlbildungen. Vor allem bei Einnahme in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten wurde die Entwicklung des Embryos gestört. Neugeborenen fehlten die Ohrmuscheln, Arme und Beine waren nicht voll entwickelt.

Im Oktober 1959 ging die erste Meldung eines Arztes ein, der einen Zusammenhang von Contergan und aufgetretenen Nervenerkrankungen vermutete. Anfang des Jahres 1961 lagen Grünenthal rund 1600 Warnungen über beobachtete Fehlbildungen bei Neugeborenen vor. Am 27. November 1961 nahm der Hersteller schließlich sämtliche thalidomidhaltigen Präparate „bis zur wissenschaftlichen Klärung der aufgeworfenen Fragen“ vom Markt.

Laut Bundesverband der Contergangeschädigten waren deutschlandweit etwa 5000 Kinder betroffen. Von diesen sind heute noch 2400 am Leben. 40 Prozent der Kinder starben bereits als Säuglinge. Grünenthal einigte sich mit den Eltern contergangeschädigter Kinder im April 1970 auf einen Vergleich. Das Unternehmen verpflichtete sich, 100 Millionen DM (51,1 Millionen Euro) für den Schadensausgleich zu bezahlen. Die betroffenen Eltern mussten im Gegenzug unterschreiben, auf sämtliche finanziellen Ansprüche gegen das Unternehmen zu verzichten. Auch die Bundesregierung stellte 100 Millionen Mark zur Verfügung.

Es war klar, dass der Schadenausgleich nicht reichen würde

Schon damals war absehbar, dass die von Grünenthal gezahlten Beträge bei weitem nicht ausreichen würden, um den Bedürfnissen der Betroffenen in angemessenem Umfang gerecht zu werden. Im Jahr 2009 zahlte Grünenthal noch einmal 50 Millionen Euro. Der größte Anteil der Unterstützungsgelder kommt aber aus Bundesmitteln: Bis Ende 2016 waren es etwa 1,01 Milliarden Euro.

Immerhin hat man aus dem Skandal gelernt. Seit 1978 werden Medikamente penibel getestet, bevor sie zugelassen werden. Pharmafirmen müssen in Laboruntersuchungen an Zellen und Tieren und in verschiedenen Testreihen an Patienten nachweisen, dass ein Mittel wirkt und dass es ungefährlich ist.

Kontrolliert wird das in Deutschland vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm). „Der Fall zeigte deutlich, dass die damaligen Regelungen zur Arzneimittelsicherheit nicht ausreichten. So war seinerzeit lediglich eine Registrierung der auf dem Markt befindlichen Arzneimittel erforderlich", schreibt das Bfarm auf seiner Homepage. Fälle im Ausmaß des Contergan-Skandals hat das bisher verhindert.

Thalidomid kommt heute bei Krebspatienten zum Einsatz

Dieses System, dass Risiken und Vorteile eines Wirkstoffs abwägt, hat auch dazu geführt, dass Thalidomid inzwischen wieder eingesetzt wird. Denn es wirkt unter anderem entzündungshemmend und regt das Immunsystem an und kann daher in der Behandlung von Lepra und Aids benutzt werden. In Deutschland kommt Thalidomid seit 2009 bei Krebspatienten zum Einsatz. Es blockiert mehrere Wachstumsfaktoren und macht es so Tumoren schwer, neue Blutgefäße zu bilden. Ärzte benutzen den Wirkstoff allerdings nur in Einzelfällen und erst, wenn herkömmliche Therapien nicht anschlagen.

Die Probleme für Schwangere haben sich allerdings kaum geändert. „Große Teile der weiblichen Bevölkerung sind von klinischen Studien ausgeschlossen, aus Angst die Patientin könnte während der Studie schwanger werden und das Kind Schaden nehmen“, erklärt Katharina Dathe. Wie also sollen Daten zu möglichen Schäden für Embryos erhoben werden? Dathe und ihre Kollegen stützen sich in ihrer Beratung von Schwangeren hauptsächlich auf Erfahrungsberichte von Patientinnen, die unbemerkt schwanger waren und ihre Medikamente weiter eingenommen haben, oder weiter einnehmen mussten, weil es keine alternative Behandlungsmöglichkeit für ihre Erkrankung gab. Das Sammeln solcher Daten ist mühsame Kleinarbeit. Vor allem bei neu zugelassenen Medikamenten sollten Schwangere darum aufpassen, da es oft noch zu wenig Informationen über Nebenwirkungen gibt.

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