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Panorama: Das Einzelschicksal verschwindet

Somalia: 150 000 Menschen vom Hochwasser betroffen / Hilfe bis zum Juli nötigVON WOLFGANG KUNATH NAIROBI.Ist die Ansammlung von Hütten inmitten der grünen Steppe da unten schon Somalia?

Somalia: 150 000 Menschen vom Hochwasser betroffen / Hilfe bis zum Juli nötigVON WOLFGANG KUNATH NAIROBI.Ist die Ansammlung von Hütten inmitten der grünen Steppe da unten schon Somalia? Nein, das muß noch Kenia sein, ein paar neue, blanke Wellblechdächer blitzen vom Flughafen herauf, neben dem Rollfeld steht sogar ein Feuerwehrauto.Schon hier, in Kenias wildem Osten, haben sich die dürftigen Straßen in Schlammbäder verwandelt, seit El Nino über dem kaum bewohnten Landstrich eine wochenlange Sintflut ausgießt.Wie mag es dann erst drüben in Somalia aussehen, dort, wo es nicht nur genausoviel geregnet hat, sondern wo sich auch noch die Wassermassen aus den südäthiopischen Bergen Bahn gebrochen haben? Das Horn von Afrika ist eine der trockensten Ecken der Erde.Doch der Süden Somalias wird von zwei Flüssen durchquert, dem Juba und dem Shibelle.Beide kommen aus dem äthiopischen Bergland, beide sind normalerweise Paradiese der Feuchtigkeit und der Fruchtbarkeit.Jetzt haben sie sich in die Hölle auf Erden verwandelt. Von den bizarrsten Nöten, die durch die Überschwemmung verursacht sind, berichtet Christopher Greco von der Hilfsorganisation World Vision: Krokodile verlassen wegen des Hochwassers ihre angestammten Orte und suchen seichteres Wasser auf - dort, wo ganz nahe auch die Menschen auf den wenigen trockenen Inseln zusammengepfercht sind.Schlangen klettern auf Bäume, und auch sie treffen mitunter auf Menschen: Eine Familie überlebte die Flut, weil sie sieben Tage lang auf einem Baum saß. Vom Flugzeug aus machen sich Greco und andere Experten ein Bild der Lage am Juba.Als die Maschine über Buale fliegt, ist Greco ganz aufgeregt.Dort hat man ihn vergangene Woche per Hubschrauber herausgeholt: Eine Ansammlung von rostigen Wellblechdächern in lehmig-braunem Wasser, der Fluß hat sich in die Ebene ergossen, bis zum Horizont blinken und blitzen die Seen in der Sonne. In den vergangenen Tagen hat der Regen nachgelassen.Im nördlichen Abschnitt des Juba ist der Wasserspiegel drastisch gesunken - in Bardera um drei bis vier Meter in drei Tagen.Aber der Fluß fließt rund 600 Kilometer lang durch Somalia bis zum Ozean, zwei Wochen braucht das Wasser bis zum Meer.Während die Katastophe im Norden praktisch vorbei ist, steht den südlicher gelegenen Flußabschnitten das Schlimmste womöglich noch bevor. "Rund 400 000 Menschen leben am Juba, und 150 000 sind nach unseren Schätzungen von der Flut betroffen, das heißt, die stehen wortwörtlich mit den Füßen im Wasser", sagt Renato Marai vom Welternährungsprogramm.Dörfer und kleine Städten sind zum Teil meterhoch überschwemmt.Die Menschen sind auf die höhergelegenen Dämme der Verbindungswege geflohen, dort haben sie sich Hütten auf den schmalen Streifen trockenen Bodens gebaut.Wie Halbkugeln schauen die Mangobäume aus dem Wasser, die Kronen der Ölpalmen steêken wie grüne Propeller in den ockerfarbenen Seen.Wo das Wasser niedriger steht, schauen die Spitzen der Maispflanzen hervor und geben ein feingetüpfeltes Muster ab.Was geht in den Menschen vor, die da unten bis zu den Knien im Wasser stehen und stürmisch heraufwinken? Die alles verloren haben - das Dach über dem Kopf, die Ernte, womöglich auch Freunde und Familienmitglieder? Die Helfer können daran kaum denken.Nothilfe ist heute ein nüchternes, mitunter hartes Geschäft, in dem Effizienz der Maßstab ist.Emotionen - Entsetzen oder Mitleid - sind nicht vorgesehen, auch wenn sie, quasi außerplanmäßig, vorkommen.Dem Verdrängen der Gefühle entspricht das Verschwinden des Einzelschicksals.Wo die Hilfe nach Tonnen, Paletten und Frachtraumkapazitäten bemessen wird, werden die notleidenden Menschen zur Menge, die erreicht, versorgt, beliefert werden muß - eine logistische Größe.Es ist ein buchstäblich abgehobenes Verhältnis zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen: Die einen stehen im Wasser, die anderen fliegen drüber hinweg. "Logistik ist zur Zeit unser Hauptproblem", sagt Renato Marai und führt als Beispiel das Lagerhaus von Saco an.Dort liegen 500 Tonnen Nahrungsmittel, 200 davon dürften verdorben sein durch das Wasser, "aber die anderen 300 Tonnen können wir nicht zu den Leuten bringen".Zwischen zwei und zehn Hubschrauber, 30 Aluminiumboote, 180 000 Decken, 60 000 Kartons Proteinplätzchen und kilometerweise Plastikplanen für Notunterkünfte werden nach Angaben der UN fürs erste gebraucht.Macht alles zusammen fünf Millionen Dollar. Und warum nicht einfach warten, bis das Wasser sich in den Ozean ergossen hat, wenn doch der Wasserspiegel im Oberlauf so schnell gefallen ist? "Was im Oktober gesät wurde, ist zerstört", sagt Marai, der den Schaden auf rund zehn Prozent der gesamten somalischen Getreideproduktion schätzt.Sofort neu auszusäen, das geht nicht, denn im Januar ist es in der Gegend wieder knochentrocken.Die Aussaat muß bis April warten, - und das bedeutet, daß die Gegend bis Juli auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein wird.Auch Trinkwasser und Medikamente fehlen, es drohen Seuchen. Abwarten - wenn es nur so einfach wäre.Am Morgen nach dem Inspektionsflug bekommt Renato Marai die Information, daß am Oberlauf des Shibelle-Flusses das Hochwasser weiter ansteigt.Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) spricht am Freitag in Genf davon, daß sich hier eine ähnliche Katastrophe anbahne wie am Juba.

WOLFGANG KUNATH

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