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Panorama: Das Haus des Horrors

Der Kinderschänder-Skandal im portugiesischen Waisenhaus „Casa Pia“ zeigt Parallelen zum Dutroux-Fall auf

„Bring mir mal Klopapier“, hörte der 11-jährige Pedro die Stimme von „Bibi“, einem seiner Erzieher, aus dem Badezimmer des Waisenhauses. Pedro gehorchte, besorgte artig eine Rolle Papier. „Da öffnete sich die Tür, und er stand da, mit heruntergelassenen Hosen. Er befahl mir hereinzukommen und presste mich an sich.“ Der Junge riss sich los und rettete sich vor dem sexuellen Angriff.

Viele seiner Kameraden im „Casa Pia“, dem größten Waisenhaus in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon, hatten weniger Glück. Hunderte von Kindern, viele von ihnen taubstumm, sollen von dem Waisenhaus-Angestellten „Bibi“, der in Wirklichkeit Carlos Silvino heißt, vergewaltigt worden sein. Oder, glauben die Ermittler, von dem Kinderschänder als Sex-Sklaven an die feine Gesellschaft Lissabons verhökert worden sein. Das „Casa Pia“ liegt nicht weit von Lissabons Prominentenviertel Belem, wo sich auch der Präsidentenpalast und das weltberühmte Jeronimus-Kloster befinden. „Bibi“ soll viele Kinder in den Klostergarten geschickt haben, wo sie von Sex-Kunden erwartet wurden. Gut 30 Jahre lang konnten „Bibi“ und seine betuchten Kunden ungestört ihr Unwesen treiben. Bis Pedro, heute 38 Jahre alt, Rechtsanwalt und Vater zweier Kinder, auspackte. Das war vor gut einem Jahr. Seine Berichte über das „Haus des Horrors“ setzten eine Lawine in Gang. Dutzende Waisenkinder, meist Jungen, verloren plötzlich ihr Angst, berichteten von Höllenqualen, erkannten ihre mutmaßlichen prominenten Peiniger anhand von Fotos. „Die Spitze eines Eisberges“, meint Pedro, der seitdem mit Todesdrohungen leben muss. „Ich war sieben Jahre, als alles anfing“, berichtet Joao. „Bibi“ habe ihn und andere Kinder in ein Haus gebracht. Dort sei ihnen befohlen worden: „Zieht eure Sachen aus.“ Dann seien mehrere Männer hereingekommen. „Sie begannen, an uns herumzufummeln…“ Einen dieser Männer hat Joao später als Carlos Cruz identifiziert – den berühmtesten Fernsehmoderator des Landes. Joao und andere Zeugen, auf die Druck ausgeübt wurde, ihre Aussagen zurückzuziehen, stehen heute unter Polizeischutz. Die Namen ihrer Schinder kannten die Kinder nicht. Sie mussten die feinen Herren immer mit „Herr Doktor“, „Herr Ingenieur“ oder einfach mit „Senhor“ anreden.

Nun zeigten sie mit dem Finger immer wieder auf dieselben Fotos mutmaßlicher Täter. Etwa jenes des früheren portugiesischen Botschafters Jorge Ritto, der als eine der Schlüsselfiguren gilt. Oder des populären Parteisprechers der oppositionellen Sozialisten, Paulo Pedroso, des bekannten TV-Komikers Herman Jose. Ein bekannter Wissenschaftler, ein Anwalt, ein Kinderarzt, der frühere Heimleiter sind unter den zehn offiziell Beschuldigten, die auf ihren Prozess warten. Personen, die bis dahin höchstes Ansehen im Land genossen. Der Fall erschütterte die Portugiesen, die das Vertrauen in ihre Vorbilder verloren. „Portugal ist ein kranker Staat“, schreiben die Kommentatoren und ziehen Parallelen zum Dutroux-Skandal, der in den 90er Jahren Belgien aufwühlte. Und: „Die Affäre lässt die Republik erzittern.“ Auch weil Portugals Kinderschänder offenbar jahrzehntelang von höchsten Stellen in Behörden, Justiz und Politik gedeckt wurden. Anzeigen und Hinweise wurden notorisch ignoriert, mehrere Ermittlungsverfahren archiviert. Etwa 1982, als die stellvertretende Familienministerin Teresa Costa Macedo, Anzeige wegen „pädophiler Umtriebe“ im „Casa Pia“ erstattete. Ihr Dossier, beklagte sie dieser Tage, habe bereits konkrete Hinweise enthalten, dass „Bibi“, mutmaßlicher Chef des Pädophilen-Ringes, „Kinder für bekannte Personen beschaffte. Auch Briefe der Opfer an die konservativen wie sozialistischen Regierungen der letzten Jahrzehnte blieben folgenlos. Stattdessen beschloss das Parlament 1999 einstimmig eine Amnestie für Delikte des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen. Die meisten Delikte der „Casa Pia“-Kinderschänder können deswegen nicht mehr geahndet werden.

Eigenartig ist zudem, dass der portugiesische Diplomat Jorge Ritto, der den portugiesischen Medien zufolge seit den 60er Jahren als Pädophiler aktenkundig war, bis Ende der 90er Jahre weiter Karriere machen konnte. In seiner Villa vor den Toren Lissabons waren bereits in den 80er Jahren Waisenkinder, die aus dem „Casa Pia“ verschwunden waren, überraschend aufgetaucht. In seiner Residenz, sagten Kinder damals schon aus, hätten „Sexpartys“ stattgefunden. Angesichts dieses Versagens staatlicher Stellen wundert es nicht, dass im Stile einer Hexenjagd immer wildere Verdächtigungen kursieren. Portugals heutiger Präsident Jorge Sampaio und einer seiner Vorgänger seien angeblich in den Skandal verwickelt, spekulieren nationale Medien. Genauso wie der sozialistische Oppositionschef Eduardo Ferro Rodrigues. Nichts scheint für die Portugiesen mehr unmöglich zu sein.

Ralph Schulze

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