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DAS MASSAKER IN BILGE: Moderne Waffen und alte Traditionen

Das Massaker in Bilge war mit mehr als 44 Todesopfern ganz besonders brutal, aber nicht außergewöhnlich: Blutbäder bei Familienfehden oder Nachbarschaftsstreitigkeiten gehören insbesondere im Südosten des Landes zum Alltag der Türkei.

Mal liefern sich zwei verfeindete Familien am helllichten Tag eine wilde Schießerei, mal durchsieben die Angehörigen eines Blutfehdeopfers das Auto der Familie des Täters mit Kugeln. Solche Ereignisse werden immer wieder von türkischen Zeitungen vermeldet. An der Wurzel des Übels liegen zwei Probleme der südostanatolischen Gesellschaft: das Gesetz der Ehre, das dort oft noch mehr Geltung hat als das Strafgesetzbuch der türkischen Republik, und der PKK-Konflikt, in dem der Staat alle regierungstreuen Kurden bis an die Zähne bewaffnet hat. Zwar ist die Türkei ihrem Anspruch nach ein moderner Rechtsstaat mit entsprechenden Werten, Gesetzen und Organen. In der Praxis hat sich dieses Rechtssystem aber noch nicht überall im Lande behaupten können. Um ihre Ehre zu retten, töten Bluträcher ihre Opfer manchmal noch auf den Stufen des Gerichtsgebäudes, bevor sie verurteilt und weggesperrt werden können.

Gefährlich verschärft wird das Problem im kurdischen Südosten des Landes durch die Bewaffnung der gesamten männlichen Bevölkerung im Kampf gegen die PKK. Rund 70 000

Kurden stehen in Südostanatolien als sogenannte

Dorfschützer unter Waffen; auch die männlichen Bewohner des Unglücksdorfes Bilge zählten zu ihnen. Der Staat händigt den regierungstreuen Milizionären je ein Schnellfeuergewehr, zwei Handgranaten und eine Kiste Munition aus, kaum dass sie volljährig sind, damit sie ihre Dörfer und die Infrastruktur der Umgebung gegen PKK-Angriffe verteidigen. Weil die Landwirtschaft durch den Krieg zerstört ist, gehören in Gegenden wie Mardin praktisch alle Männer zwischen 16 und 60 der Miliz an – und sind entsprechend schwer bewaffnet. Außer Waffen und einem Monatssold von knapp

300 Euro für die Milizionäre hat der türkische Staat den Bewohnern dieser Region nicht viel zu bieten. Die Gegend ist unterentwickelt, rückständig und bitterarm, insbesondere viele Frauen können nicht lesen und schreiben. güs

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