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Das Wetter war mies am Samstag in Istanbul. Davon haben sich die Demonstranten nicht abschrecken lassen.

© Steven Lüke

Demonstrationen in Istanbul: Männer in Miniröcken und Fußball-Fans

Nicht nur der Fall Özgecan Aslan hat zu mehr Demonstrationsbereitschaft in Istanbul geführt. Allein am Samstag kam es zu vier Demonstrationen in kurzer Folge. Männer in Miniröcken bekamen viel Aufsehen. Sie waren nicht die einzigen.

Ein bewegter Samstag auf der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal: Schon am Mittag sammelt sich auf dem Vorplatz des Galatasaray Lyzeums, auf halber Strecke zwischen Tünel und dem Taksimplatz, eine Gruppe der kurdischen Partei HDP, um eine Kundgebung zum internationalen Tag der Muttersprache abzuhalten. Die Polizei ist bereits vor Ort, wie so oft an den Wochenenden, ein Wasserwerfer und gepanzerte Einheiten der Polizei stehen bereit. Neben der Kundgebung stehen weitere Demonstrationen an, darunter Männer, die in "Miniröcken" gegen Gewalt gegen Frauen demonstrieren wollen. Der Fall um die ermordete Studentin Özegan Aslan hat hohe Wellen geschlagen und die Leute in Istanbul auf die Straßen getrieben. Aber es geht nicht nur um den Mord an der 20-Jährigen.

Im Internet war zu der Demonstration aufgerufen worden

Am Ende der circa zwei Kilometer langen Straße ist gegen 15:00 Uhr am Tünelplatz eine übersichtliche Gruppe junger Männer mit Röcken zu sehen. Im Internet war zu einer Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen aufgerufen worden – im Minirock. Immer mehr Männer in Röcken kommen hinzu. Sie tragen noch Hosen darunter, denn warm ist es nicht gerade an diesem Samstag, den 21. Februar 2014 in Istanbul.

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Wenig später setzen sich die Männer in Bewegung. Die türkischen Kamerateams folgen ihnen und die Menge wächst weiter. Es fällt schwer, genaue Angaben zu machen, da sich auch an gewöhnlichen Samstagen tausende Menschen durch die wohl geschäftigste Straße der Stadt drängen. Beobachter schätzen die Zahl der Demonstranten auf bis zu tausend. Andere sagen, es wären weniger als 500. Natürlich sind nicht alle Teilnehmer im Rock aufgelaufen und viele Menschen schließen sich der Demonstration auch spontan an.

„Männer Schlagen, der Staat schweigt!“, „Özgecan Aslan ist hier, doch wo ist der Staat?!“ und „Mögen die Hände gebrochen werden, die sich gegen Frauen erheben!“ hallt es durch die Häuserschluchten. Männer in Miniröcken, Männer in Hosen, Frauen, ganze Familien und Menschen aller Altersstufen haben sich zusammengefunden, um gegen die virulente Gewalt zu demonstrieren, denen viele Frauen in der Türkei ausgesetzt sind.

Nachdem Erkan Dogan am 15. Februar 2015 im Istanbuler Stadtteil Kadiköy im Minirock gegen Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen protestiert hatte, startete eine Kampagne über Facebook und das türkische Soziale Netzwerk „eksi sözlük“. Männer wurden dazu aufgerufen, am Samstag mit Miniröcken im Bezirk Taksim für Frauenrechte zu einzustehen.

Es geht um den Tod von Özgecan Aslan und um die getöteten Frauen in der Türkei. Allein im letzten Jahr sind der Internetplattform Bianet zufolge mindestens 281 Frauen Opfer von Gewalt geworden und mussten dies mit ihrem Leben bezahlen. Die Internetseite anitsayac.com, ein digitaler Grabsteins für die Opfer von häuslicher Gewalt, geht gar von 288 Frauen aus. Den Angaben der Seite nach starben allein in den ersten zwei Monaten des neuen Jahres 41 Frauen. Geht es so weiter, könnte dieses Jahr ein neuer trauriger Rekord gebrochen werden.

Der Mord an Aslan ist kein Einzelfall

Einige Tage nach dem Tod Aslans, tötete in Antalya ein junger Mann seine Freundin, als diese sich nach einem Streit weigerte mit ihm nach Hause zu kommen, indem er sie mehrfach mit seinem Wagen überfuhr. Im Istanbuler Stadtteil Cengelköy wurden letzte Woche in einem Müllcontainer die Teile einer Frauenleiche gefunden, sie war von ihrem Mann umgebracht und zerstückelt worden. Auch am Sonntag berichteten türkische Zeitungen von dem Fund einer verbrannten Frauenleiche in einem Olivenhain in der Provinz Manisa.

Problematisch ist vor allem der Umgang mit den Fällen: Oft gibt es Haftbegünstigungen aufgrund von „Provokationen“ durch die Frauen, wenn die Ehre des Täters verletzt wird, wenn die Frau einen Rock trug oder vergessen hatte, ihr Facebookprofil auf „verheiratet“ umzustellen.

Viele Demonstranten in Istanbul fordern die Todesstrafe, nicht nur im Falle von Özgecan Aslan.
Viele Demonstranten in Istanbul fordern die Todesstrafe, nicht nur im Falle von Özgecan Aslan.

© Steven Lüke

Dies ist alles nichts Neues in der Türkei, jedoch haben einige Menschen das Gefühl, dass sich die Lage der Frauen in der Amtszeit der regierenden AKP eher verschlechtert, denn verbessert hat. Statements, nach denen es keine Gleichberechtigung geben kann, Studenten und Studentinnen in getrennten Wohnungen leben sollten, Abtreibungen schlimmer als Vergewaltigungen seien, und Frauen, die sich zu lasziv kleiden, Mittäter von Sexualverbrechen sind, gehört zum Standardreportoire vieler AKP Abgeordneter. Auch machte in den letzten Tagen die Vizedirektorin eines Gymnasiums in der Provinz Antalya von sich reden, die strafversetzt wurde nachdem herauskam, dass sie bei einem Treffen der Klassensprecher ihrer Schule dafür plädiert hatte, „Belästigungsgruppen“ aus männlichen Schülern zu etablieren, um den Mädchen, die sich zu freizügig kleiden, das Leben schwer zu machen.

„Habt ihr die Schreie von Özgecan gehört?“

Die Protestierenden an diesem Samstag in Istanbul kritisieren genau diese Mentalität und die daraus resultierende gesellschaftliche Pathologie. Auf selbstgeschriebenen Plakaten ist „Ihr habt gesagt, ein sechs jähriges Mädchen kann heiraten. Die "Perversion" beginnt in den Gedanken... und wird zur Tat“ zu lesen. Oder: „Mord an Frauen ist politisch“ und „Habt ihr die Schreie von Özgecan gehört?“.

Ein junger Mann im Minirock spricht ernst und voller Pathos: „Ich denke an meine Mutter, sie hat mir das Leben geschenkt, von ihr lehrte ich alles was mich ausmacht. Den Menschen fehlt die Bildung und das Bewusstsein über die Wichtigkeit der Frau! Haben die Mörder keine Mütter, keine Schwestern, keine Töchter?”

Nach einem kurzen Sit-in vor dem Galatasaray Lyzeum, wo auch eine etwa zehnköpfige Gruppe für härtere Strafen gegen Sexualstraftäter einen Sitz-Protest abhält und sich schließlich der Demonstration anschließt, geht es zurück zum Tünelplatz. Dort angekommen verläuft sich die Menge langsam, es wird noch für Fotos posiert. Unter anderem der aus verschiedenen Fernsehserien und dem Theater bekannte Schauspieler Ali Erkazan lässt sich mit und später ohne Rock ablichten.

Ein Samstag in Istanbul. Immer mehr Menschen schließen sich den Demonstrationszügen an oder verweilen mit Sitzblockaden.
Ein Samstag in Istanbul. Immer mehr Menschen schließen sich den Demonstrationszügen an oder verweilen mit Sitzblockaden.

© Steven Lüke

Es wird noch angeregt in Kleingruppen diskutiert. Ein Mitvierziger in geblümtem Rock lässt sich bereitwillig fotografieren. Er ist Lehrer und redet mit einer Gruppe Frauen mittleren Alters. Immer wieder wird das Gespräch unterbrochen. Einer seiner Studenten entdeckt ihn zufällig bei dem Marsch und bittet um ein gemeinsames Bild. Die Resignation einer der Frauen, die sagt, dass sich trotz der Geziproteste im Juni 2013 nichts geändert habe, ja die Situation sich sogar verschlechtert hätte, teilt er nicht und widerspricht energisch. Seiner Meinung nach hätten die Menschen in der Türkei gelernt, was es heißt Widerstand zu leisten und gemeinsam für eine Sache einzustehen. Er glaubt daran, dass der „Geist von Gezi“ auch jetzt in der Luft liegt und die Landesweiten Proteste seit dem Tod Aslans gegen die Gewalt dies beweisen würden.

Die Bürger organisieren Foren und diskutieren in den Parks

Nach der Räumung des Geziparks haben in vielen Kiezen die Menschen angefangen, sich in ihren Parks zu versammeln und abendliche Foren zu organisieren. Hier konnte zunächst jeder, der wollte, zwei Minuten reden und die Anwesenden haben via Handzeichen Zustimmung und Ablehnung ausgedrückt. Mit der Zeit bildeten sich auch Arbeitskreise hinaus und ein Kern ist nach wie vor vernetzt und versucht weiter in verschiedenen Bereichen Widerstand zu leisten und sich politisch zu organisieren.

Unter anderem der aus verschiedenen Fernsehserien und dem Theater bekannte Schauspieler Ali Erkazan (zweiter von rechts) lässt sich mit und später ohne Rock ablichten.
Unter anderem der aus verschiedenen Fernsehserien und dem Theater bekannte Schauspieler Ali Erkazan (zweiter von rechts) lässt sich mit und später ohne Rock ablichten.

© Steven Lüke

Kurz nach dem Minirocklauf kommt es zu einem seltsamen Zwischenspiel. Ein Fanclub des Kasimpasa Spor Klübü, des Fußballvereins des Istanbuler Bezirkes in dem Erdogan aufwuchs und dessen Heimspiele folgerichtig im Recep Tayyip Erdogan Stadion stattfinden, versammelt sich ebenfalls, um Özgecan Aslan zu gedenken. Der Fanclub ist benannt nach der Jahreszahl 1453, dem Jahr in dem die Ottomanen Konstantinopel eroberten. Ungefähr hundert Männer, zumeist deutlich unter zwanzig, tragen Schals mit dem Bild Aslans und der Aufschrift „Wir werden nicht vergessen!“. Es wurde eine Nebelkerze gezündet und direkt wieder gelöscht, um Probleme zu vermeiden. Auf einem schwarzen Banner steht „Allah hat uns die Frauen anvertraut“. Fans des Vereins waren zuletzt aufgefallen, als sie vor der Tageszeitung Cumhurriyet gegen die Veröffentlichung des Titelblattes der ersten Charlie Hebdo Ausgabe nach dem Anschlag vom Januar protestierten.

Ein Fanclub des Kasimpasa Spor Klübü, des Fußballvereins des Istanbuler Bezirkes in dem Erdogan aufwuchs, versammelt sich ebenfalls, um Özgecan Aslan zu gedenken.
Ein Fanclub des Kasimpasa Spor Klübü, des Fußballvereins des Istanbuler Bezirkes in dem Erdogan aufwuchs, versammelt sich ebenfalls, um Özgecan Aslan zu gedenken.

© Steven Lüke

Eine halbe Stunde später startet die nächste Demonstration. Mehrere tausend Menschen marschieren am frühen Abend, ebenfalls von Tünel zum Galatasaray Lyzeum. Protestiert wird gegen das geplante Sicherheitsgesetzespaket der AKP, bei dessen Diskussion es vergangene Woche im Parlament zweimal zu Handgreiflichkeiten und am Samstag zu einem Sit-in der Oppositionsparteien kam. Es war von den linken Dachorganisationen Demokratischer Kongress der Völker (HDK) und der Vereinten Juni Bewegung (BHH) zu dem Marsch aufgerufen worden. Letzter eine aus den Geziprotesten und den auf sie folgenden Parkforen hervorgegangene Organisation. Es tönen Sprechchöre durch die Straßen: „Mörder! Dieb! Erdogan!“.

Der Mord an Özgecan Aslan hat viele Menschen im ganzen Land auf die Straßen gebracht, auch das Sicherheitspaket wird heiß diskutiert. Die Monate bis zur Parlamentswahl im Juni können spannend werden.

Demonstranten am Samstagabend in Istanbul mit Plakaten gegen das geplante Sicherheitsgesetzespaket der AKP. "Sicherheit für das Volk, nicht für die AKP. Seite an Seite (Schulter an Schulter) gegen Faschismus" steht auf dem Plakat.
Demonstranten am Samstagabend in Istanbul mit Plakaten gegen das geplante Sicherheitsgesetzespaket der AKP. "Sicherheit für das Volk, nicht für die AKP. Seite an Seite (Schulter an Schulter) gegen Faschismus" steht auf dem Plakat.

© Steven Lüke

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