zum Hauptinhalt

Panorama: Der Berg kommt

Am Eiger ist der erste große Fels abgebrochen

Das Schweizer Bergdorf Grindelwald ist in eine dichte Staubwolke gehüllt. Riesige Felsmassen stürzten am Donnerstagabend und in der Nacht zum Freitag am Eiger zu Tal. Etwa ein Fünftel der absturzgefährdeten Felsmassen fiel auf den darunterliegenden Grindelwaldgletscher.

Zwei Millionen Kubikmeter Fels sind insgesamt gefährdet. Die Gemeinde Grindelwald ist nicht bedroht. Sie schluckt nur Staub.

Vor zwei Wochen ist der Felskoloss an der Ostflanke des Eiger in Bewegung geraten. Die Frage, wann denn nun „der Berg kommt“, hält derzeit die ganze Schweiz in Atem. Die Antwort wird die Natur geben, denn zuverlässig prognostizieren lässt sich der genaue Zeitpunkt des endgültigen Abbruchs trotz komplizierter Lasermessungen nicht. Der zuständige Geologe Hans Rudolf Keusen erwartet in den nächsten Tagen zunächst keine weiteren großen Abbrüche mehr. „Möglicherweise wird der Fels schließlich in mehreren Etappen kommen“, sagt er.

Seit Tagen schon beobachten nun Fernseh- und Radiostationen sowie sämtliche Schweizer Tageszeitungen mit Argusaugen jede kleinste Bewegung des Felsens. Das Naturspektakel am Eiger, das seinesgleichen sucht, hat sich zu einer Touristenattraktion entwickelt. In Scharen pilgern Gäste und Einheimische zur Bäregg-Hütte auf 1775 Metern über Meer.

Von der Terrasse des kleinen Berghauses aus bietet sich ein grandioser Ausblick auf den Felsriesen, der sich keine 700 Meter entfernt schwarz und tief gefurcht über dem Abgrund wölbt. Die klaffende Felsspalte zieht sich 200 Meter quer über die Flanke und reicht fast 200 Meter in die Tiefe. Vom Gletscher im Tal ist kaum mehr etwas zu erkennen; Felsstaub und Gesteinsbrocken bedecken die 200 Meter dicke Eisschicht. 1000 Besucher zählte der Bäregg-Wirt am Wochenende in seiner Hütte, in der er normalerweise nur ganz vereinzelte Wanderer empfängt. Die Hütte ist neu, die alte musste er im vergangenen Jahr wegen Bergstürzen aufgeben.

Jetzt brummt das Geschäft. „Wir werden richtig überrannt“, erzählt seine Frau, und er selber meint müde, aber zufrieden: „Der Berg, der ist gut für uns.“ Sensationshungrige Gäste auf der Terrasse springen jedes Mal auf, wenn wieder einmal der Lärm fallender Gesteinsbrocken zwischen den Bergwänden widerhallt.

Den Grindelwalder Gemeindepräsidenten Andreas Studer erstaunt das große Interesse nicht: „Selbst uns Bergler beeindruckt der Felssturz.“ Hinzu komme, dass die Bergwelt und Katastrophen die Leute schon immer angezogen und fasziniert hätten. „So ist er halt, der Mensch.“

Studer freut sich über die Besuchermassen. „Dieses Schauspiel ist für die Leute völlig ungefährlich und regt sie zum Denken an – über den Rückzug unserer Gletscher, aber auch über unsere Berge. Diese stehen nicht einfach starr da, sondern bewegen sich. Wie wir auch“, sagt er.

Ursache der sich häufenden Felsstürze ist die Klimaerwärmung, die dazu führt, dass sich die Gletscher immer stärker aus den Tälern zurückziehen. Felsen, die zuvor durch das Eis geschützt, gestützt und eingefasst waren, sind plötzlich den Witterungen ausgesetzt, werden instabil und anfällig für Risse. Denn zum einen verursacht eindringendes Wasser Druck. Und zum andern entladen sich aufgrund der sich zurückbildenden Gletscher Spannungen. Diese Veränderungen in den Alpen gefährden auch die Schweizer Bergbahnen, von denen heute etwa 16 Prozent in Permafrostzonen stehen. Damit die Pfeiler nicht absacken, werden sie in Zukunft Millionen in Sicherheitsvorkehrungen stecken müssen.

Barbara Lauber[Grindelwald]

Zur Startseite