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Panorama: "Der Blick": Paradieswärts

Die Augen, die vom Umschlag schauen, richten ihren Blick aus einem ägyptischen Totenreich in diese Welt. Bei Georges Salles kann man erfahren, wie lebendig sie sind, wenn man nicht blind zurückschaut wie oft in "einer starren, farblosen Welt, in die von außerhalb nur die kurzen Hinweise dringen, die wir für unser Tun und Denken benötigen.

Von Gregor Dotzauer

Die Augen, die vom Umschlag schauen, richten ihren Blick aus einem ägyptischen Totenreich in diese Welt. Bei Georges Salles kann man erfahren, wie lebendig sie sind, wenn man nicht blind zurückschaut wie oft in "einer starren, farblosen Welt, in die von außerhalb nur die kurzen Hinweise dringen, die wir für unser Tun und Denken benötigen. Da wir so an den Dingen nur die zweckdienlichen Zeichen wahrnehmen, bewegen wir uns abgeschnitten von deren fließender Unbestimmtheit durch das sinnliche Universum." Der Blick, der ihm vorschwebt, setzt ein Minimum an Komplizenschaft voraus. Aber wer sich auf sein Verweben von Erkenntnissen, Erfahrungen, Erinnerungen und auf der (Netz-)Haut zu spürenden Sensationen einlässt, will von Abstraktionen nichts mehr wissen. Wie Salles, gleich zu Anfang, von einer Rubensskizze auf das Kochen kommt, ist typisch für sein Denken, und was er über das Kunstwerk schreibt, gilt auch für das eigene Buch. Seine Geistigkeit ist nichts anderes "als ein ins Poetische verlängerter organischer Genuss".

"Der Blick" (Le regard) ist das Buch eines Mannes, in dem jeder einzelne Satz die Erfahrungen eines halben Lebens mit der Kunst enthält. Ein Essay, dessen Dichte gerade seine assoziative Durchlässigkeit ausmacht: die Empfindsamkeit für Sinneseindrücke aller Art, für Licht, Bewegungen und Vibrationen, für die Übergänge zwischen Kunst und Wirklichkeit, die Ansprüche, die beide Welten aneinander richten, die Reflexe, die daraus entstehen. Und es ist ein Plädoyer für die lebensverändernde Kraft von Kunst, die einem auf bildungsbürgerliche Erlebnisse fixierten Publikum entgeht: "Der trübe Schleier über dem berühmtem Gemälde bestärkt sie, denn sie suchen nach einbalsamiertem Ruhm, nicht nach dem Glück des Schauens." Salles vermittelt eben dieses Glück. In sechs Kapiteln umkreist er das Geheimnis ästhetischer Wahrheit - unter anderem in einem Porträt des Sammlers als verhindertem Künstler: "In seinem Innern treiben Rudimente, die sich ohne die Hilfe einer Begabung nicht haben vollenden können. Eine Welt von in den Vorhöfen des Paradieses umherirrenden Schatten verlangt danach, geboren zu werden. Sie warten darauf, erkannt zu werden, doch die Tür bleibt verschlossen." Man muss das wohl auch als Selbstbeschreibung lesen.

Georges Salles (1899-1966) war seit 1932 Konservator für Asiatische Kunst im Louvre und nach dem Krieg Direktor der Musées de France. Er hat - außer einer Kunstgeschichte des Orients und einem Buch über den Louvre - kein nennenswertes Werk hinterlassen. Das Wenige, das er schrieb, ist um so intensiver. Außerdem war ihm das Dienende seines Tun immer bewusst. "Le regard" erschien 1939 bei Plon, wurde erst 1992 wieder aufgelegt und hat außerhalb Frankreichs vor allem in Form eines hymnischen Briefes von Walter Benjamin an Max Horkheimer eine Spur hinterlassen: Das Proustische an Salles und dessen Distanz gegenüber der reinen Theorie beeindruckten ihn sehr. Dieses wundervolle Buch handelt vor allem von den Bildenden Künsten. Aber soviele Brücken es zu Musik und Dichtung schlägt, ist es eine Reise ins Allerheiligste aller Gattungen, bis zu dem Punkt, an dem man sich sagt: "Wir sind in jene Kammern der Ekstase eingedrungen, wo der Geist sich dem Zauber der Materie unterwirft." Schwerelosigkeit kann man das auch nennen.

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