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Panorama: Der Fall wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt - Täter bleibt unsichtbar

Geduldig hielten die Fotografen den Finger am Auslöser. Betriebsamkeit vor dem Saal 145 des Landgerichtes Dresden.

Geduldig hielten die Fotografen den Finger am Auslöser. Betriebsamkeit vor dem Saal 145 des Landgerichtes Dresden. Doch das Warten vor der Tür ist vergeblich. Die Verhandlung vor der neunten Strafkammer hat längst begonnen. Der Fall des 15-jährigen Andreas S. aus Meißen, der am 9. November des Vorjahres vor den Augen seiner Klassenkameraden seine Lehrerin niederstach, wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt.

Niemand bekommt den jugendlichen Täter zu Gesicht. So bleibt es der zierliche Sprecherin des Landgerichtes vorbehalten, immer wieder zu erklären, was sich hinter der verschlossenen Tür abspielt: Die Vernehmung des Angeklagten zur Person und zur Tat, wie es sachlich heißt. Anwesend ist ein psychologischer Gutachter, der die Schuldfähigkeit des Angeklagten beurteilen soll. Zwar hat er schon ein vorläufiges Gutachten erstellt, zur endgültigen Beurteilung des Falls will er aber noch den Verhandlungsverlauf abwarten.

Etwa zur gleichen Zeit hat im Meißner Franziskaneum, dem Ort der Bluttat, planmäßig der Unterricht begonnen. Gesang aus Kinderstimmen dringt nach draußen. Irgendwo ist gerade Musikstunde. Ab und zu zeigt sich ein Gesicht am Fenster. Besondere Auffälligkeiten an diesem Tage will Schulleiter Dietmar Liesch nicht beobachtet haben. Der Schulleiter ist um Normalität bemüht, wohl wissend, dass es diese Normalität seit jenem 9. November an seinem Gymnasium nicht mehr gibt. Er spüre Trauer und Verantwortung, sagt Liesch, der Vorgang sei noch nicht abgeschlossen. Was in Andreas S. vorgegangen sein mag, als er seinerzeit maskiert, mit zwei Messern bewaffnet, ins Klassenzimmer stürmte und 22 mal auf seine Lehrerin Sigrun Leuteritz einstach, darüber wird nach wie vor gerätselt.

Hass hatte er als Begründung für seine Tat angegeben. Dem kann der Schulleiter nicht folgen. Die Lehrerin sei erst seit Jahresbeginn an der Schule gewesen. Er glaube nicht, dass sich in dieser kurzen Zeit solche Hassgefühle aufbauen konnten. "Alles Spekulation", bestätigt der Psychologe Georg Pieper. Bei Andreas S. habe es keine Hinweise auf Besonderheiten gegeben. "Er war kein Außenseiter."

Die Tat hat an dem Gymnasium Spuren hinterlassen. Zunächst hatten die Schüler jener Klasse 9.1 ihre Lehrer zu einer Kaffee-Stunde eingeladen, um sich auszusprechen. Rund zwei Mal monatlich ist Pieper zu Gesprächen in der Schule. Aggressionen an Schulen gibt es immer, sagt Pieper. Aber die Lehrer glaubten zumeist, die Situation im Griff zu haben. Nun mussten sie feststellen, dass diese Einschätzung ein tödlicher Irrtum sein kann. Dass der Lehrerin niemand zu Hilfe eilte, erklärt Pieper mit dem Schockzustand der Klasse. "Die Schüler hatten selbst Angst, 99 Prozent der Bevölkerung wären auch nicht in der Lage gewesen einzugreifen." Die schulischen Leistungen der Mitschüler von Andreas S. sind seit jenem Ereignis nachweislich schlechter geworden. Einige sprechen über die Sache, wollen aktiv aufarbeiten, andere wollen vergessen, Gras darüber wachsen lassen.

"Ein Drittel der Jugendlichen aus der Klasse, in der die Tat geschah, sind so schwer traumatisiert, dass ohne therapeutische Hilfe dauerhafte Schäden bleiben würden", sagte Trauma-Experte Georg Pieper am Dienstag in Meißen. Der Psychologe aus Friebertshausen bei Marburg betreut die etwa 30 Schüler und 15 Lehrer, die unter den Auswirkungen der Tat vom vergangenen November leiden. Wichtig ist nach Einschätzung von Pieper, dass das durch die Tat zerstörte Vertrauen zwischen Schülern und Lehrern weiterhin wieder aufgebaut wird. "Dafür gibt es gute Ansätze."

In fünf Verhandlungstagen sollen 19 Zeugen gehört werden.Weiteres zum Thema im Internet

www.meinberlin.de/meissen

Ralf Hübner

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