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Panorama: Der längste Tag: Schlafes Schwester (Kommentar)

Schlafen wäre jetzt schön. Aber wer schreibt, der schläft nicht.

Schlafen wäre jetzt schön. Aber wer schreibt, der schläft nicht. Und wer liest, verehrtes Publikum, auch nicht. Dabei wäre es gut, wenn Sie und ich jetzt schliefen: gut für die Gesundheit, den Frieden und die Volkswirtschaft. Heute ist der längste Tag des Jahres; nicht von ungefähr hat die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung ihn zum "Tag des Schlafes" erklärt. Schlafmangel, das sei aus gegebenem Anlass in all seiner Dramatik vermerkt, ist eine gefährliche Angelegenheit. Sie schlafen zu wenig? Nun, dann tragen Sie womöglich zu den 20 Milliarden Mark bei, die übermüdungsbedingte Unfälle in Deutschland alljährlich kosten. Und Sie können schon jetzt mit einer deutlich verkürzten Lebensdauer rechnen. Denn Sie riskieren nicht nur Kollegenschelte wegen chronischer Gereiztheit, sondern auch veritable Depressionen, sogar Schlaganfälle - auch das Herz braucht viel Schlaf.

Allein, wer bekommt schon genug davon. Der Schlaf spaltet die Kulturnation, trennt Paare, Geschlechter, Generationen. Sage mir, wie du schläfst, und ich sage dir, wer du bist. Da gibt es den Umfaller, der kaum, dass er auf der Bettkante sitzt, schon abgetaucht ist, während sich an der Bettkante gegenüber die Wälzerin plagt. Die Wälzer brauchen kleine Ewigkeiten, bis das Rad im Kopf endlich stillsteht, und entwickeln sich im Lauf der Jahre zu Ritualschläfern mit ausgeklügelten Lärmschutzvorrichtungen samt Kopfkissenfetischismus. Es gibt die Langschläfer, die Schnarchsäcke, die Zweiwecker-Steller, die Frühaufsteher und die Mittagschläfer, denen das Nickerchen heilig ist (Winston Churchill, Napoleon, Albert Einstein). Ganz zu schweigen von den Warm- und den Kaltfüßlern, die es im Bett nicht leicht haben miteinander.

Wer wacht, der träumt nicht. Was wäre die Menschheit ohne ihre Träume, die Kulturgeschichte des Abendlandes ohne Sigmund Freud und die Traumdeutung ohne den Schlaf! Den Künstlern gibt es Morpheus am liebsten im Tief- oder im Halbschlaf, in jenem seltsamen Zwischenreich, das der Fantasie Schwingen verleiht und den Umfallern weitgehend unbekannt ist. Die Kunst, Schlafes Schwester, hat ihren Bruder wahrlich nötig, weshalb die Sophiensäle in Berlins Mitte demnächst einen Schlafsaal mit 30 Betten einrichten werden. Ab 4. Juli darf dort täglich außer Montags von 12 bis 17 Uhr Mittagsruhe gehalten werden. Komm, wir gehen schlafen - für acht Mark die Stunde. Und "Siesta für alle" wird der Slogan für die nächste Kulturrevolution. Ja, schlafen wäre jetzt schön.

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