zum Hauptinhalt

Panorama: "Der nächtliche Skater": Befreite Grazien

"Beim Gang zurück durch die Straßen wussten nur wir und nicht die wenigen einzelnen und Paare, dass wir Lebende waren und sie nur Nachhausegänger. Hier unten zwischen den Reihen der Schaufenster hatte sich nichts ereignet.

"Beim Gang zurück durch die Straßen wussten nur wir und nicht die wenigen einzelnen und Paare, dass wir Lebende waren und sie nur Nachhausegänger. Hier unten zwischen den Reihen der Schaufenster hatte sich nichts ereignet. Es war drei Uhr." So nüchtern resümiert die Erzählerin des kurzen Prosastücks "Der gelbe Kran" eine Erfahrung, die ihrem Leben eine möglicherweise entscheidende Wendung gegeben hat.

Was ist geschehen? Oberflächlich gesehen nicht viel: Zwei junge, unternehmungslustige Menschen erklimmen nach einer nächtlichen Zechtour durch Berlin einen Baukran. Beim Abstieg verfehlt die Erzählerin eine Sprosse und entgeht einem voraussichtlich tödlichen Absturz nur knapp. Wichtiger aber als dieser kurze Blick in den Abgrund ist die morgendliche Verknüpfung des eigenen Erlebnisses mit dem Unfalltod einer "Berühmtheit" (die Rede ist wohl von Lady Diana), von dem sie in den Nachrichten erfährt und der sich exakt zum selben Zeitpunkt zugetragen hat. Ein kleiner Zufall mit, so vermutet man, ungleich größerer Wirkung.

Das Augenmerk der 1970 geborenen Erzählerin Tanja Schwarz gilt den Momenten, in denen sich dank einer unverhofften und zunächst belanglos wirkenden Begegnung, einer unerwarteten Gefühlsregung oder eines beiläufig wahrgenommenen Alltagsdetails der Blickwinkel verschiebt und die Protagonisten ein neues Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Situation erlangen - oder zumindest erlangen könnten. Denn im Detail kann beides stecken, die große Umwälzung oder die Sicherheit, an der es festzuhalten gilt - "das wars, und was es war, ist jetzt nicht wichtig, es zählen jetzt die Handgriffe des Maschinisten", wie die namenlose Erzählerin der Titelgeschichte sagt.

Doch auch sie, die eine gescheiterte Liebesbeziehung zu verkraften sucht, verlangt nach der alles verändernden Kleinigkeit: "Ich sah jemanden in einer bestimmten Hose, der aussah, als helfe ihm diese Hose weiter, als gebe sie ihm Gewissheit über einige wichtige Aspekte. Ich suchte so lange, bis ich eine solche Hose in einem Laden fand, kaufte sie, und als ich sie zuhause anzog, stellte sich der erwünschte Effekt nicht ein. Die Hose gab nichts von ihrer Richtigkeit an mich ab." Das vielleicht fehlende Mosaikteilchen kommt zufällig, in Gestalt des "nächtlichen Skaters". Vielleicht - denn hier wie anderswo bleibt es dem Leser überlassen, dem Detail Bedeutung beizumessen und die Geschichte, von ihm ausgehend, noch einmal zu lesen.

Oftmals erzählt Schwarz nicht einfach eine Geschichte, sondern zugleich die Möglichkeit dieser oder einer anderen Geschichte. Besonders augenfällig wird dies, wenn die Autorin mit Zeitebenen spielt und die Grenzen von Wirklichkeit und Traum verwischt, etwa in der wunderbaren vierteiligen Erzählung "Der schwarze Dieb", die in einer ebenso erschreckenden wie abstrusen Traum- und Märchensequenz gipfelt, die Schauerromantik mit irischem yarn kombiniert und dennoch gekonnt eine Beziehung auszuleuchten vermag, von der man am Schluss freilich nicht weiß, ob sie jemals stattgefunden hat. Ähnlich faszinierend sind fast alle Schwarzschen Geschichten, ob sie nun in der "Neuen Mitte" Berlins, in der der Neuköllner Leinestraße oder im schwäbischen Ländle angesiedelt sind. Stilsicher, mit präzisen Beobachtungen und oft ebenso verblüffenden wie erhellenden Wendungen und Bildern werden einem ihre zwischen Routine und Sehnsucht festsitzenden Figuren nahegebracht.

"Bambina Walz steckt also auf diesem Albumbild, das wir gerade ansehen, doppelt gefangen in einem Dirndl, geerbt und zu eng, und im Schaukelpferdchensitz. Um das Kleinkind Bambina Walz und um das Pferdchen herum garniert sich Frau Walz". Ausgehend von der Keimzelle dieses Familienfotos entwickelt Schwarz das pointierte Doppelportrait einer Mutter-Tochter-Beziehung. In anderen, weniger nuancierten Geschichten überrascht dann wieder der Humor der Autorin, oft mit einem Hang zum Grotesken oder gar zum Slapstick, wenn beispielsweise der Besuch einer Katzenausstellung in der Rauferei mit dem Geschäftsführer endet.

Alle diese Erzählungen werden verknüpft durch Motive, die in veränderter Form immer wieder auftauchen: sei es die besagte Katzenausstellung, seien es "Virginia und Vita" (als deren Patinnen man Virginia Woolf und Victoria "Vita" Sackville-West vermuten kann), Zwillingsmädchen zunächst, anderswo ein phantasiertes Liebespaar und zuguterletzt zwei Hündinnen. Oder die Figur der Gloria (die wie Bella, Diva, Romuald Putzmacher und viele andere Figuren einen sprechenden Namen trägt), dem unnahbaren Objekt der Begierde, einer sehr weltlichen Beatrice mit Heißhunger auf Sauerbraten, deren Sehnsüchte erst in der vorletzten Erzählung aus ihrer Perspektive vorgestellt werden - wenn es denn wahrhaftig nur eine Gloria geben sollte. Männliche Figuren tauchen dabei bestenfalls in Statistenrollen auf. "Es war, als sei das Patriarchat endlich besiegt und die befreiten Grazien kämen herbeigewogt, um mich zu holen, was auch immer sie mit mir vorhätten", heißt es nicht umsonst in einer Geschichte. Die Erzählungen von Tanja Schwarz sind in der Tat Geschichten von Frauen und über Frauen - doch keinesfalls sollten sie ausschließlich weibliche Leser finden.

Jan Wagner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false