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Panorama: "Der Rabbi hat immer Recht": Den Gipfel sieht man nur im Tal

Es ist wahrscheinlich weniger schwierig, ein Problem zu lösen, anstatt mit ihm zu leben. Probleme sind so alt wie die Menschheit.

Es ist wahrscheinlich weniger schwierig, ein Problem zu lösen, anstatt mit ihm zu leben. Probleme sind so alt wie die Menschheit. Ging es in den Zeiten, in denen der aufrechte Gang soeben erlernt wurde, noch um Probleme der Nahrungsbeschaffung, geht es heute um die Entlastung des Marktes - Probleme werden aus dem Überfluss geboren und sind, im Lichte der Vernunft betrachtet, nichts anderes als überflüssig. Der Mensch hat sich zu jeder Zeit seine Probleme geschaffen und meist dadurch gelöst, dass er sich ein anderes vorgenommen hat. Das Resultat: eine Kaskade verschwisterter und verschwägerter Fragezeichen. Ein hübscher Stammbaum voller Rätsel.

Vielleicht dachte sich Nilton Bonder, dass der nicht in den Himmel wachsen muss und widmete sich in seinem Buch "Der Rabbi hat immer Recht" der Kunst, Probleme zu lösen. Der 1957 in Porto Alegre in Brasilien geborene Autor absolvierte seine Ausbildung zum Rabbiner am Jüdischen Theologischen Seminar in New York. Heute ist er Präsident des Instituts für Religionsstudien, der größten Organisation für Bürgerrechtsfragen in Lateinamerika. Rabbi Nilton Bonder hat kein Rezept zur Lösung von Problemen, wohl aber eine Religion. Die Juden befanden sich in ihrer Geschichte oftmals in ausweglos erscheinenden Situationen und haben eine Art der Selbstverteidigung entwickelt, die darin besteht, dass man die Struktur dieser Situationen aufbricht und nicht selten zu verblüffenden Handlungsmöglichkeiten kommt. Mit jüdischen Anekdoten, Psalmen und vor allem mit jüdischem Humor gelingt es fast mühelos, sich dem Kern eines Problems zu nähern. Der Humor ist hier nichts anderes als eine Erkenntnis, die sich gelegentlich mit einem Schmunzeln, viel öfter aber in einem vom Herzen kommenden Lachen Ausdruck verschafft. Der jüdische Witz als berühmter Strohhalm im Meer der Probleme.

Und ist keines da, sucht man sich eins. In den untersten Schichten des Bewusstseins lagern noch ganze Stapel unbeantworteter Fragen. Nicht selten ist das ein Archiv sinnloser Fragen, mit denen wir uns gern das Leben schwer machen. Und, nicht zu vergessen, auch das Leben unserer Mitmenschen. Die Kunst, Probleme zu lösen, lebt von der Fähigkeit, den Dingen neue Bezugsrahmen zu verleihen. Durch diese Technik können verborgene Elemente an sich klarer Sachverhalte an den Tag gebracht werden. Oftmals gibt schon die Frage mehr Auskunft über den Sachverhalt, der die Stirn in Falten legt, als die Antwort.

Unter der Devise "Besser ein Jude ohne Bart, als ein Bart ohne Jude", versteht es diese Religion, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, nämlich aus der Perspektive des so genannten "jiddischen Kopps". Das ist die Fähigkeit, die Probleme so lange auf sich zukommen zu lassen, bis sie etwas wie ihre kritische Masse erreichen. Erst dann lösen sie einen Prozess in unserem Bewusstsein aus: Das scheinbar Unmögliche muss gar nicht so unmöglich sein. Die längst begrabenen Hoffnungen fangen plötzlich an zu keimen.

Um der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, geht es weniger darum, Lösungen zu entwickeln. Man muss versuchen, aus den Strukturen des Nichtwissens auszubrechen. Deshalb teilt Rabbi Nilton Bonder nach dem großen chassidischen Meister Reb Schneur Salem (1746-1812) die Welt in vier Bereiche, in denen es um das Erkennbare und Verborgene geht. Durch diese Bereiche zu reisen, ist ein Lesevergnügen, was Probleme schlichtweg vergessen lässt und zur Erkenntnis führt, dass man Gipfel ja auch nur im Tal sieht.

Heike Kunert

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