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Panorama: Diana wird Dornröschen

Jede Spekulation ist besser als keine: Warum die Briten ihre Königin der Herzen nicht loslassen

„Da können Sie mir viel erzählen“, meint Miss Watkins mit einer resoluten Handbewegung. „Da ist was faul dran, glauben Sie’s mir." Dass Diana, ihre Herzenskönigin, in jener schrecklichen Augustnacht in Paris von einem betrunkenen Chauffeur schlicht an einen Unterführungs-Pfeiler und damit in den Tod gefahren wurde, hat die junge Bürogehilfin aus dem Londoner Stadtteil Clapham eh noch nie glauben können.

„Und was war mit dem weißen Fiat Uno, den man nie gefunden hat? Und mit dem Lichtblitz im Tunnel und den abgeschalteten Überwachungs-Kameras?“ Ihren Glauben an die finsteren Mächte, die Diana getötet haben, lässt sich Miss Watkins nicht nehmen. Mr.Patel, der Zeitungshändler an der Ecke, bei dem sie auch an diesem Morgen ihren „Daily Mirror“ kauft, weiß das schon und setzt sein schönstes Lächeln auf. „Miss Watkins, Sie werden mir noch erzählen, dass Dodi und Diana gar nicht wirklich tot sind, sondern im weißen Fiat Uno damals unbemerkt entkamen – und dass sie heute irgendwo an einer stillen Südseebucht am Strand liegen.“

Dazu kann Miss Watkins nur den Kopf schütteln. „Wer weiß, was die uns alles verschwiegen haben. Wir wissen eh nur, was wir wissen sollen.“ Mr. Patel, in seinem kleinen Reich der Zeitungsstapel und phantastischen Geschichten, hievt einen Packen frisch gedruckter Mirrors auf den Tresen und reicht Miss Watkins ihr Exemplar. „Sie war nicht schwanger“, verkündet die Titelseite dieses Morgens, den maßgeblichen Autopsie-Zeugen zitierend. „Ich habe in ihre Gebärmutter geschaut.“

Nun ist Dianas Gebärmutter also zur Kristallkugel geworden, in der ein ratloses Königreich zu Jahresbeginn sich Antwort auf die Frage erhofft, ob wohl und wie und warum eigentlich der britische Thronfolger seine Ex-Frau in Paris habe umbringen lassen – oder auch nicht. „Mordvorwurf wird nun untersucht“, dröhnte der Mirror tags zuvor schon einmal provisorisch. Und am Tag davor: „Diana-Brief – es war also Charles!“ Die „Sensation“ dieser Schlagzeile, das Wörtchen Charles in blutrote Lettern getaucht, bezog sich auf einen zehn Monate vor Dianas Tod verfassten Brief, den die Prinzessin „als Rückversicherung“ ihrem Butler Paul Burrell anvertraut hatte, und der erst jetzt in vollem Wortlaut an die Öffentlichkeit kam. In dem Brief beschuldigte Diana ihren Ex-Gatten, einen Unfall zu planen, bei dem an ihrem eigenen Wagen die Bremsen versagen und sie ums Leben kommen sollte – und alles nur, damit Charles endlich seine alte Flamme Camilla heiraten könnte. Nun war es zwar nicht Dianas eigener Wagen, der ein knappes Jahr später in Paris verunglückte. Auch hatte außer Diana und ihrem Liebhaber Dodi Fayed kein Mensch wissen können, dass das Paar an jenem Abend noch zu Dodis Apartment fahren würde, statt sich im Ritz-Hotel zur Nacht zu betten. Ungeklärt blieb ebenso die Frage, warum sich die Prinzessin nicht anschnallte, im Unglückswagen, wenn sie doch Schlimmes befürchten musste.

Doch solche Einwände bringen Miss Watkins nicht aus dem Konzept. „Henri Paul, der Fahrer, war gar nicht betrunken, das ist doch bekannt. In Wirklichkeit hat der für die Geheimdienste gearbeitet. Der ist von seinen eigenen Leuten für diese Aktion geopfert worden.“ Mr. Patel wiegt nachdenklich den Kopf. „Das haben doch die Franzosen drüben schon alles untersucht, Miss Watkins. Und wie hätte Charles so einen skrupellosen Plan in die Tat umsetzen sollen? Das passt doch alles nicht zusammen, finde ich. Das macht doch keinen Sinn, den Royals so etwas in die Schuhe zu schieben.“ „Und warum hat es fast zwei Stunden gedauert, bis sie ins Krankenhaus kam? Und warum wurde sie nicht ins nächstliegende Krankenhaus eingeliefert?“

Für Miss Watkins, wie für – laut Umfragen – jeden vierten Briten, mangelt es der offiziellen Version der Ereignisse jedenfalls an Glaubwürdigkeit. Radiostationen und Zeitungsredaktionen in England melden „lebhaftestes Interesse“ an diesem Thema: Zum Zeitpunkt der in dieser Woche mit sechsjähriger Verspätung aufgenommenen gerichtlichen Untersuchung der Todesursache Dodis und Dianas schwappt eine Woge der Verdächtigungen und Verschwörungstheorien über die Insel, die kaum zu bremsen, kaum in rationale Bahnen zu lenken ist. Noch einmal geistert, in einem Nachklang zum emotionalen Aufruhr des Diana-Todes 1997, die verblichene Herzenskönigin durch die tieferen Regionen der Insel-Psyche, auf der Suche nach verlorenen Seelen und nach dem treulosen Gatten, der noch ihren Griff aus dem Grab nach seiner künftigen Krone fürchten muss.

Im Spiegelsaal der wirren Spekulationen ist dieser Spuk dem Königshaus geradezu unheimlich geworden: Kein Wunder, dass der staatliche Untersuchungs-Beauftragte, Coroner Michael Burgess, feierlich gelobt hat, in diesem Fall endlich „Fakten von Fiktion“ zu trennen, und „bloße Gerüchte“ mit Hilfe des Polizeipräsidenten der Hauptstadt ein für alle mal, autoritativ, zum Verstummen zu bringen. Solange diese Gerüchte aber nicht verstummen wollen, haben die Spötter im Lande gut lachen, wenn sie davon munkeln, dass möglicherweise „Elvis sich an Dianas Auto zu schaffen machte“. Fliegen nachts Untertassen über Windsor Castle? Lebt John F. Kennedy mit Marilyn Monroe auf dem Mond? Wurde Diana von Charles ermordet?

Herzliche Glückwünsche übermittelt die Autorin Joanna Pitman ihren Landsleuten „zum Eintritt in den Club der paranoiden Nationen“: „Wir armen Briten haben ja auch seit fast 400 Jahren keine anständige Verschwörung mehr gehabt.“ Die Verschwörungstheorien indes wachsen weiter, wie die Dornenhecke um Dornröschens Schloss.

Von der Legende ihrer unglücklichen Prinzessin können viele Briten auch sechs Jahre nach dem Ereignis nur schwer lassen. Diana will nicht, Diana darf nicht sterben. „Sehen Sie“, meint Mr. Patel, mit dem nächsten Packen auf dem Arm, „die Zeitungen brauchen was zu schreiben, die Leser brauchen was zu lesen, so ist das eben.“ Miss Watkins aber, auf dem Weg zur Tür, dem täglichen Weg ins Büro, ist nicht umzustimmen. „Was soll man davon halten, dass der Thronfolger beschuldigt wird, seine Frau um die Ecke gebracht zu haben? Hier, sehen Sie – jetzt will die Polizei ihn sogar allen Ernstes vernehmen! Und warten Sie nur mal ab. Dianas verschwundene Tonbänder, von denen werden wir auch noch hören. Wenn die auftauchen, das können Sie mir glauben, dann gehen im Buckingham-Palast aber die Lichter aus.“

Marie Michelle[London]

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