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Panorama: Die Angst nach der Flut

Psychologische Folgen der Flutkatastrophe sind nicht absehbar

Von Carsten Werner

Zerstörte Häuser, überflutete Städte, tote Menschen und Tiere: Während der Hochwasserflut hatten viele Betroffene Todes- oder Existenzängste auszustehen. Wer Sandsäcke gestapelt und das Wichtigste gerettet hat, der kommt in diesen Tagen vordergründig zur Ruhe. Jetzt werden die seelischen Folgen der Katastrophe deutlicher. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) warnt vor einer psychotherapeutischen Unterversorgung in Ostdeutschland: Nur vier Prozent aller Vertragspraxen haben hier ihren Sitz. Fachleute erwarten, dass viele Flutopfer unter psychischen Belastungen leiden werden.

Nach ersten Fragen wie: „Wie hoch steigt das Wasser? Was sollen wir tun?" hätten viele Leute ihre Sorgen im Dauereinsatz verdrängen können, sagt Eberhard Schmidt. Er war in Dresden für ihre psychologische Erst- Betreuung zuständig. Immer wieder seien Sandsack-Barrieren auch da errichtet worden, wo sie offensichtlich keinen Zweck mehr gehabt hätten. Das Stabilisierende war das gemeinschaftliche Erleben.

Jetzt stehen viele vor einem Haufen stinkenden, wertlosen Sperrmülls, der vorher ihr Zuhause war. Die Spenden und Hilfsgelder haben eine massive Erwartungshaltung erzeugt. Wenn Betroffene beim Wiederaufbau auf finanzielle Grenzen stoßen, können ernste psychische Krisen ausbrechen: Resignation, Depressionen oder Aggressivität machen sich breit. Der Verlust von Haus, Auto oder Wohnungseinrichtung habe auch symbolischen Charakter, sagt der Bielefelder Trauma-Experte Werner Wilk: „Heutzutage bauen wir ja für die Ewigkeit, für unsere Kinder und Enkel." Solche Sicherheiten hat die Flut zerstört. Die Situation des Ausgeliefertseins wird dadurch verstärkt, dass die Naturgewalt kein wirklicher, greifbarer Gegner ist. Man kann mit der Natur nicht reden, es gibt keinen benannten Feind.

Kinder müssen Gefühle verarbeiten

Für Menschen, die im Krieg oder durch Zwangsumsiedlungen der DDR-Regierung an der innerdeutschen Grenze schon Evakuierungen erlebt haben, bedeuten die erneuten Evakuierungen ein Wiederaufflammen der belastenden Erinnerungen. Dabei kann es zu erneuter Traumatisierung kommen. Möglichst viele Menschen wurden deshalb überzeugt, ihre flutgefährdeten Wohnungen freiwillig zu verlassen.

Manche Kinder haben die Flutkatastrophe wie einen Abenteuerurlaub erlebt - sie halfen beim Sandsackfüllen und arbeiteten mit Bundeswehrsoldaten bei der Deichsicherung. „Michelle ist drei Mal im Fernsehen gewesen, ich nur einmal", bedauert der achtjährige Christian Weise. Manche haben plötzlich kein Zuhause mehr. Dröhnende Hubschrauber haben ebenso tiefe Eindrücke hinterlassen wie Lautsprecherdurchsagen der Polizei, man solle sein Haus verlassen. Besonders schlimm für Kinder ist der Anblick ihrer hilflosen, weinenden Eltern. In den Schulen, die oft auch beschädigt wurden, werden jetzt die Emotionen und Eindrücke im Ausnahmezustand verarbeitet: Die Erlebnisse werden nachgespielt, gemalt und besprochen. Helfer bekommen Dankesbriefe. Weil auch für Kinder die Gefahr einer Traumatisierung und jahrelangen Leidens besteht, sollten Eltern jetzt „eine Zukunftsperspektive und Hoffnung bieten und immer wieder mit ihnen sprechen. Allein Schokolade, Geschenke oder Urlaub reichen nicht", so der Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes, Oleg Hammling. Bei vielen habe die Flut das Urvertrauen erschüttert, dass ihnen nichts Böses widerfahren kann.

Wer sich noch lange Sorgen und Gedanken macht, sollte vertrauensvoll professionelle Hilfe bei einem Psychologen suchen. Selbst nicht geschädigte Menschen müssen ihr Erschrecken verarbeiten: Sie wollen handeln. Daher rührt auch die große Spendenbereitschaft. Direkter Kontakt hilft bei der Verarbeitung besonders gut: Patenschaftsprojekte zwischen Städten und Betrieben, Hilfen und Gespräche vor Ort.

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