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Die Geschichte: Der Eisheilige

Mehr als 5000 Jahre lag er in seinem frostigen Grab, bis ihn der Gletscher 1991 freigab: Wanderer entdeckten einen Toten aus der Jungsteinzeit in den Ötztaler Alpen.

Alleine findet man die Stelle nicht. Man kann mit dem Auto das ganze Ötztal durchfahren, bis hoch ins Bergdorf Vent, kann am nächsten Morgen früh losmarschieren, durchs hinterste Niedertal an mehreren Hütten vorbei, an vielen Schafen und Geröllhängen und kleinen Gletscherbächen, kann sich an den rot-weiß-markierten Steinen orientieren, erst Richtung Similaun-Gipfel, dann rechts abbiegen, dabei schwitzen und schwer atmen und sich wünschen, man hätte mehr als nur einen Liter Wasser mitgenommen. Nach einer Pause kann man sich weitermühen, einen neuen Hang hinauf, über ein Stück Gletscher bis auf das Tisenjoch in 3200 Meter Höhe zu dem aufgeschichteten Denkmal, einer schmalen Steinpyramide, und sich in ein Buch eintragen, um zu beweisen, dass man tatsächlich dort gewesen ist. Und wenn man all das getan hat, dann ist man trotzdem bloß: am Fundort vorbeigelaufen.

Nein, man muss schon einen wie Luis Pirpamer dabeihaben. Der war bereits vor 20 Jahren hier. Und seitdem immer wieder. Pirpamer zeigt mit dem Wanderstock Richtung Nordosten auf eine unauffällige Felsrinne, ein halbes Fußballfeld entfernt. „Da drüben.“

Luis Pirpamer ist 74 und Österreichs berühmtester Bergführer. Er war auf dem Kilimandscharo, in Nepal, auf dem K2. Vor allem aber gehört ihm die Almhütte, durch deren Tür am Nachmittag des 19. Septembers 1991 ein Nürnberger Ehepaar tritt. Sie seien beim Wandern vom Weg abgekommen, sagt die Frau. Dabei hätten sie eine Leiche entdeckt. Vielleicht. Es könne sich aber auch um eine Schaufensterpuppe handeln. Es wird noch fünf Tage brauchen, bis der erste ahnt, dass Familie Simon einer der bedeutendsten prähistorischen Funde Europas gelungen ist. Einer, der die Region weltweit bekannt macht und Initialzündung wird für eine ganze Ötzi-Industrie. Mit Freiluftmuseen, Büchern, Filmen, Vortragsreihen und hunderten wissenschaftlichen Publikationen, die alle im Grunde zwei Fragen nachgehen: Wer war der Mann, dessen Hinterkopf im Spätsommer 1991 aus dem Schnee ragt – und warum musste er sterben?

Die Frage, die Luis Pirpamer zunächst beschäftigt, lautet: wohin mit der Leiche? Er telefoniert mit der Gendarmerie in Tirol und dann mit den Carabinieri in Südtirol. Jemand muss zum Fundort kommen, den Toten bergen. Die Italiener sagen, das sollen die Österreicher erledigen. Am nächsten Tag steigt Luis Pirpamer hinauf, mit Franz, dem Schwiegervater seines Sohnes. Sie bedecken die Leiche mit einer Plane, legen Schnee und Eis drauf. Es ist ein heißer Sommer 1991, der Wind hat Sand aus der Sahara angeweht, das beschleunigt die Gletscherschmelze. Fragt man Luis Pirpamer heute, ob ihn der Anblick damals geekelt habe, die dunkelgefärbte Haut, die leeren Augenhöhlen, dann lächelt der Mann milde, als hätte man soeben die abwegigste Frage der Welt gestellt. „Er roch auch gar nicht.“ Luis Pirpamer war damals Chef der Bergrettung, hat dutzende Menschen aus Gletscherspalten gezogen, der Anblick eines Toten schockt ihn nicht. Allein im Hitzesommer 1991 geben die Gletscher der Ötztaler Alpen elf Leichen frei. Zehn davon sind rasch vergessen.

Wie Ötzi nach Innsbruck kam, lesen Sie im zweiten Teil.

Heute ist die Fundstelle wieder komplett zugefroren. Läge Ötzi noch hier, kein Wanderer könnte ihn entdecken. Luis Pirpamer zeigt, wo die Ausrüstung der Mumie verteilt war. Dort im Felsvorsprung steckte der Bogen, da drüben das Kupferbeil. Und gleich hier bei der Leiche, hier knieten Reinhold Messner und Hans Kammerlander. Die beiden Extrembergsteiger waren gerade mit Fernsehteams in der Gegend, ließen sich von Luis Pirpamer zum Fundort führen. Es existiert ein Foto, das nicht besser veranschaulichen könnte, was der Mumienfund im Tisenjoch nämlich auch ist: eine Geschichte der Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Das Bild zeigt Kammerlander mit türkisem Stirnband und pinker Wanderjacke, wie er mit einem Stück Holz im Boden herumstochert. Als wolle er Ötzi eigenhändig aus dem Eis befreien. Später wird sich herausstellen, dass der Stock nicht zufällig herumlag, sondern Teil der Tragevorrichtung auf Ötzis Rücken war.

Archäologen sagen: Ötzis Bergung ist vor allem ein Paradebeispiel dafür, wie man mit prähistorischen Funden nicht umgehen sollte. Die Gerichtsmediziner, die am fünften Tag mit dem Hubschrauber aus Innsbruck anreisen, buddeln den Toten mit Skistöcken aus, auch ein Presslufthammer wird eingesetzt. Kleidungsreste stapeln sie zu einem Haufen. Kommt alles mit in den Leichensack. Später in Innsbruck wird die Leiche beinahe zerstückelt. Denn in der Gerichtsmedizin soll eine Obduktion klären, woran der Mann im Eis starb – niemand ahnt, dass hier eine 5300 Jahre alte Sensation liegt, eine Feuchtmumie mit weitgehend erhaltenen Organen. Die Leiche ist bereits auf dem Seziertisch, da fällt dem Arzt das seltsame Beil im Plastiksack auf. Vielleicht sollte einer mal den Archäologen vom Institut gegenüber Bescheid geben, sagt er.

Luis Pirpamer hat die Mumie seitdem mehrfach besucht, hat mit Wissenschaftlern diskutiert und sich oft die Haare gerauft. Denn es gibt da ein weiteres Missverständnis, das droht, nie aufgeklärt zu werden. Es hat wieder mit einer Zahl zu tun: 92,55. So viele Meter soll Ötzi auf italienischem Boden von der Grenze zu Österreich entfernt gelegen haben. Nachgemessen im Oktober 1991, um zu entscheiden, welcher der beiden Staaten Anspruch auf den wertvollen Fund hat. Luis Pirpamer will nicht einsehen, dass die Österreicher ihre Mumie hergeben mussten. „Ich könnte mich leicht damit abfinden“, sagt er. „Aber warum sollte ich, wenn es nicht richtig ist?“

Der Grenzverlauf ist genau geregelt, im Vertrag von St. Germain-en-Laye aus dem Jahr 1919, der das Staatsgebiet des neuen Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg festlegt. Luis Pirpamer hat sich das Dokument zeigen lassen. Darin steht: Der Teil des Gletschers, der nach Süden entwässert, gehört zu Italien, der Rest zu Österreich. Man braucht keinen Zollstock und keine Wasserwaage, um hier oben zu erkennen: Die Mumie lag deutlich auf der nördlichen Seite. Mindestens 50 Meter. Das Problem sind die Grenzsteine. Die wurden 1922 weitläufig und ungenau verlegt, man kann sagen: schlampig. Hält man sich an diese Steine und denkt sich eine direkte Linie dazwischen, fällt Ötzis Fundstelle Italien zu. Luis Pirpamer mag sich nicht an diese Steine halten.

Das einzige Pfund der Österreicher ist der Name. Ötzi wie Ötztal, also Tirol. Erfunden wird er nicht hier, sondern 450 Kilometer entfernt in Wien am Küchentisch von Karl Wendl. Der Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ findet die von Kollegen und Wissenschaftlern gebrauchten Bezeichnungen für die Mumie unpassend: Eistoter, Alpen-Adam, Homo Similaunus, die Engländer nennen ihn Frozen Fritz. Nein, eine dermaßen unansehnliche Leiche brauche wenigstens einen sympathischen Namen, findet Wendl. Dann denkt er: Yeti und Ötztal. Macht Ötzi. Schon wenige Tage später wird der Name im gesamten deutschsprachigen Raum verwendet. Der italienischen Seite passt er gar nicht. Bozens Provinzparlament erlässt einen Beschluss, wie die Mumie korrekterweise und ausschließlich zu bezeichnen sei: „L’uomo venuto dal ghiaccio“. Der Mann, der aus dem Eis kam. Bringt aber nichts. Im Internet ist Ötzi heute der dritthäufigste Name aus Österreich. Hinter Mozart und Red Bull.

Die Mumie selbst wird 1998 an Italien überstellt. Weil Tiroler Nationalisten mit Sabotageakten drohen, wird extra die Autobahn gesperrt, der Transport von einer Polizei-Eskorte begleitet. Seitdem liegt die Mumie im eigens errichteten Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen. Wer sie sehen will, muss zwischen Absperrbändern Schlange stehen. Es ist auffallend still in dieser Warteschlange, keiner spricht, es wird nicht mal geflüstert. Man fühlt sich nicht wie in einem Museum, eher wie auf einer Trauerfeier. Als sei Ötzi gerade erst gestorben. Ganz langsam geht es voran, denn durch das schmale Fenster in den Nebenraum kann immer bloß einer gucken. Eine eigene Eiskammer haben sie ihm errichtet. Der Monitor zeigt die wichtigsten Messdaten an: minus sechs Grad. Luftfeuchtigkeit 98 Prozent. Gletscherbedingungen. Alle drei Monate wird die Mumie mit sterilem Wasser besprüht, damit sie nicht austrocknet. Bei Stromausfall starten innerhalb von zwölf Sekunden die Dieselaggregate, für den Notfall hält das Zentralkrankenhaus Bozen eine eigene Kühlzelle bereit. Die Mumie ist sicher hier, heißt es. Es kann gar nichts passieren. Doch wenn es aus den letzten 20 Jahren eine Lehre zu ziehen gibt, dann wohl diese: Wissenschaftler können sich irren.

Bis 2001 galt als gesichert, dass der Mann im Eis eines natürlichen Todes starb. Womöglich wurde er von einem Schneesturm überrascht, hieß es. Dann wurde auf neuen Röntgenbildern die Pfeilspitze in Ötzis Rücken entdeckt. Das Unglück wurde zum Kriminalfall.

Welche Rätsel der Gletschermumie gelöst wurden, lesen Sie im dritten Teil.

Bis heute ist nicht geklärt, wie man zehn Jahre lang eine Pfeilspitze übersehen konnte. Vielleicht weiß es Walter Leitner. Der Archäologe von der Universität Innsbruck gehörte vor 20 Jahren dem innersten Zirkel der Wissenschaftler an, die Zugang zur Mumie hatten. Heute leitet er das Institut für Archäologien, ist weltweite Ötzi-Instanz. Das Universitätsgebäude liegt am Rande eines Gewerbegebiets, aus Leitners Büro im dritten Stock blickt man auf eine Autowerkstatt und einen Baumarkt. Er weiß nicht recht, wie er das mit der Pfeilspitze erklären soll, sagt Leitner. Und dann tut er es doch: Natürlich sei der Fremdkörper auch schon auf den Röntgenbildern von 1991 zu sehen. Wenn auch nicht so scharf und kontrastreich. Leitner hat die Mediziner von damals befragt und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie den Schatten schlicht übersehen haben. Weil Radiodiagnostiker eben gezielt nach auffälligen Strukturen suchen, die auf Krankheiten hinweisen. Tumore zum Beispiel. Die Mediziner sagen, das hätten die Archäologen sehen müssen. Andererseits: Wer traut Archäologen normalerweise zu, Röntgenbilder zu deuten?

„Man muss der Wissenschaft wohl zugestehen, dass sie Fehler macht“, sagt Walter Leitner. „Vor allem müssen wir uns das selbst eingestehen.“ Und dann bereit sein, sicher geglaubte Informationen über Ötzis Identität zu revidieren. Sicher geglaubt ist derzeit: Der Mann aus dem Eis war mächtig, vielleicht Clan-Chef, vielleicht Schamane. Er ist aus dem Hinterhalt ermordet worden, vermutlich von einem Angehörigen der eigenen Sippe. Nur so ist zu erklären, warum der Täter das wertvolle Kupferbeil nicht mitnahm. Es hätte ihn verraten. Die Suche nach der Wahrheit gleiche dem Zusammenlegen eines Puzzles, sagt Walter Leitner. Und obwohl bereits viele Rätsel gelöst wurden, sei kaum zu erwarten, dass dieses Bild jemals vollständig zusammengefügt werden könne. Alle paar Jahre wird die Mumie ins Labor verlegt, dann darf wieder neu geröntgt und vermessen werden. Manchmal wird die Leiche auch aufgeschnitten, das hinterlässt Spuren. Walter Leitner erinnert Ötzis Körper inzwischen an einen Adventskalender. Wegen der vielen geöffneten Türchen.

Einen Teil ihrer Zeit müssen Wissenschaftler darauf verwenden, abseitige Thesen über Ötzis Herkunft zu widerlegen. In den Anfangsjahren wurde das Institut mit Hinweisen von Bürgern überflutet. Einer merkte an, die Leiche habe erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry. Ein anderer erkannte seinen verschollenen Onkel Enno wieder. Auch ein Brief aus Nigeria ging in Innsbruck ein: Man könne wertvolle Informationen über die Biografie des Eismannes liefern, benötige zuvor aber 5000 Dollar. Dann erfand ein Journalist den Ötzi-Fluch. Sieben Personen, die mit der Mumie in Kontakt kamen, seien binnen weniger Jahre gestorben, unter anderem der Entdecker aus Nürnberg, 2004 abgestürzt beim Klettern. Als Luis Pirpamer die Geschichte morgens in der Zeitung las, musste er grinsen. Er selbst war dort unter den Toten aufgeführt. Noch am selben Tag rief der Journalist an und entschuldigte sich.

Gerade hatte Walter Leitner wieder Ärger. Ein römischer Archäologe hatte in einer Fachzeitschrift behauptet, Ötzi sei am Tisenjoch gar nicht gestorben, sondern Monate nach seinem Tod rituell bestattet worden. Gemeinsam mit Kollegen verfasste Leitner eine deutliche Stellungnahme. Die italienischen Überlegungen seien nicht überzeugend, substanz- und kenntnislos, heißt es darin. Wenn er jetzt in seinem Büro davon erzählt, kann er bereits wieder schmunzeln. Die Puzzlesuche geht weiter.

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