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Die Geschichte: Ronnie rennt

Er raubt Banken aus, einmal drei an einem Tag. Eine Schrotflinte und eine Faschingsmaske, mehr braucht er nicht. Wie „Pumpgun-Ronnie“ 1988 Österreich in Atem hält

Am Ende hatten ihn seine Jeans verraten. Röhrenjeans in Blau, Stangenware, damals wie heute von vielen getragen, und doch hatten sie die Polizei auf seine Spur gebracht. Die Jeans waren nämlich zu lang, und anders als seine Zeitgenossen hatte er das nicht modisch gefunden, sondern unpraktisch. Johann Kastenberger, ein Mann, der viel Bewegungsfreiheit brauchte, trug die langen Hosenbeine umgestülpt.

Einem Polizisten war das aufgefallen, einem Polizisten, der auch das Überwachungsvideo aus einer überfallenen Bank gesehen und bemerkt hatte, dass dieser mit Hochdruck gesuchte Räuber mit der Pumpgun und der komischen Maske ebenfalls die Jeanshosenbeine aufgekrempelt hatte. Es war nur ein Indiz, aber es führte die Behörden auf die richtige Fährte, an deren Ende nicht nur die Aufklärung einer ganzen Serie von Banküberfällen stand, sondern auch eine spektakuläre Hatz über die Autobahn, der Selbstmord eines Bankräubers und heute, knapp 22 Jahre später, ein Film von Benjamin Heisenberg.

„Der Räuber“ heißt der Film, er hatte auf der Berlinale Premiere und ist seit Donnerstag in den deutschen Kinos zu sehen. Es ist ein Film über einen Getriebenen, der Banken überfällt, gar nicht so sehr des Geldes wegen, sondern aus sportlichem Ehrgeiz. Wie viele Banken schafft er? Wie viele an einem Tag? Wie lange ist er schlauer, schneller als die Polizei? Nein, er hat keinen ausgefeilten Plan, er hat eine Schrotflinte. Er geht in die Bank, lässt sich mit der Waffe im Anschlag seine Tasche füllen, dann läuft er davon. Heisenbergs Räuber kann nicht anders als immer weiterzumachen, sich in einen Rausch zu steigern, niemals stehen zu bleiben. Das hat für den Zuschauer etwas Beklemmendes. Dafür sorgt schon ein Insert, das gleich zu Beginn eingeblendet wird: „Ein Film nach einer wahren Geschichte.“

Es ist seine Geschichte: Johann Kastenberger, geboren am 1. Oktober 1958 im niederösterreichischen St. Leonhard am Forst, gestorben am 15. November 1988 durch einen Kopfschuss auf der Westautobahn bei St. Pölten, knapp eine Marathondistanz von seinem Geburtsort entfernt.

Acht Banken hat Kastenberger von November 1987 bis März 1988 in und um Wien überfallen, am 19. Februar 1988 gleich drei Geldinstitute innerhalb weniger Stunden. Umgerechnet 500 000 Euro hat er insgesamt erbeutet. Er arbeitete immer gleich, machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Spuren zu verwischen. Immer hatte er dieselbe Schrotflinte in der Hand, immer vermummte er sein Gesicht mit derselben Faschingsmaske – einem Bildnis des damals amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan. „Pumpgun-Ronnie“ nannten ihn deshalb die Medien, und sie machten ihn rasch zum Star: Er war der dreiste Typ, der so hemmungslos die Polizei herausforderte; der unverfroren eine Bank nach der anderen ausraubte. Mehrere Male, so ein damals involvierter Ermittler, hatte er noch in der Bank in aller Ruhe kontrolliert, wie viel Geld ihm die Kassierer eingepackt hatten. Hatte der Mann denn gar keine Angst, geschnappt zu werden?

Pumpgun-Ronnies Geschichte prägte Österreich im Jahr 1988, auch weil sie so viel an Projektionsfläche bot. Natürlich war der Mann mit der Schrotflinte böse, er war ein Gewalttäter. Aber er war, gerade im an sich sehr obrigkeitshörigen Österreich, auf verbotene Weise faszinierend, ein Outlaw, mit dem die Öffentlichkeit zumindest im Stillen sympathisieren konnte. Die Suche nach dem ominösen Maskenräuber wurde zur größten Polizeiaktion in Österreichs Nachkriegsgeschichte. Aber stellenweise wirkte die Suche nach „Pumpgun-Ronnie“ wie eine Realität gewordene Episode aus „Kottan ermittelt“ – einer Fernsehserie, in der schrullige Polizisten, auf Wienerisch „Kieberer“ genannt, tollpatschig durchs Bild tapsten. Und hatte der Bankräuber nicht unbestritten „Schmäh“, dieses Kulturgut, in Österreich so wichtig und stets herbeigesehnt wie ein Abfahrts-Olympiasieg? Der Mann mit der Maske wurde über die Monate zum romantischen Helden.

Doch das ist nur eine der Facetten, die die Geschichte dieses Bankraubs so spektakulär macht. Die andere ist, dass Johann Kastenberger, der Mann, der die Maske durch die Banken trug, so gar nichts mit der idealisierten Heldenfigur zu tun hat. Er war kein Schmähbruder, kein augenzwinkernd ironischer Typ, sondern eine gebrochene Figur, jemand, der sich nach Anerkennung und Aufmerksamkeit sehnte – und vor allem auch nach klaren, ordnenden Strukturen, nach Sicherheit.

Schon als Kind hat Kastenberger kein gutes, zumindest kein sorgenfreies Leben, und das beginnt wohl schon an diesem 1. Oktober 1958, als er als Sohn eines Eisenbahn-Bediensteten in einem niederösterreichischen Provinznest zur Welt kommt. Kurz nach der Geburt zweifelt der Vater. Er strengt einen Vaterschaftstest an, und tatsächlich wird kurz darauf Johanns Name in den offiziellen Dokumenten auf den Mädchennamen seiner Mutter – Kastenberger – geändert. Der Vater bleibt noch im gleichen Haus, die Zahl der Kinder wächst auf insgesamt sieben Geschwister. Doch 1970 verlässt der Eisenbahner die Familie, Johanns Mutter versucht, sich und die Kinder mit Gelegenheitsjobs durchzubringen. Johann hilft mit: Er kümmert sich um die kleineren Geschwister, jobbt in einem Eisenwarenladen. Darunter leidet die Schule, Johann wird in der Hauptschule zurückgestuft.

Anerkennung findet er als Jugendlicher beim Sport. Johann spielt Fußball – so gut, dass er das Angebot bekommt, zur Jugendmannschaft eines österreichischen Bundesliga-Klubs zu wechseln. Dafür hätte er von seiner Mutter wegziehen müssen – also lehnt Johann ab. Er konzentriert sich auf die Leichtathletik, aufs Laufen. Und immer ist er der Schnellste. Der Sport machte ihn zum Helden. „Er hat alles gewonnen, niemand konnte ihn besiegen“, sagt Konrad Gutlederer. Der 51-Jährige ist heute Restaurantleiter im ehrwürdigen Wiener Hotel Bristol. Vor fast 40 Jahren hatte er mit Kastenberger in der Schulmannschaft trainiert, und er erinnert sich noch ziemlich genau an den jungen, eher schmächtigen Typen: „Sein Leben war der Sport. Dabei war er immer fröhlich. Über seine Familie hat er nie geredet. Er hat uns nie zu sich nach Hause eingeladen.“ Und das, obwohl Kastenbergers direkt neben der Schule wohnten. Was Kastenberger noch auszeichnete? Er hatte nicht nur Talent, so Gutlederer, sondern auch den Ehrgeiz, sich zu überwinden: „Er hatte Biss.“

Abseits des Sports fehlte dieser unbedingte Willen offenbar. Jeden Ausbildungsversuch brach er nach kurzer Zeit ab. Auf der Höheren Technischen Lehranstalt hält er es knapp ein Jahr aus, beim Bundesheer, in der Heeressport- und -nahkampfschule, nicht viel länger.

Und dann, 1976, wird Kastenberger kriminell.

Erst versucht er in Wien eine Taxifahrerin zu überfallen, scheitert aber. Dann probiert er es in einem Supermarkt. Er schlägt einen Nachtportier nieder, doch den Tresor kann er nicht knacken. Und als er dann erfolgreich ist – bei einem Banküberfall in einem Vorort Wiens erbeutet er umgerechnet knapp 5000 Euro – wird Kastenberger nicht einmal eine Stunde nach seinem Überfall mit der Beute von der Polizei auf dem Wiener Westbahnhof geschnappt. Er ist geständig, wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

Anfangs kommt er mit der Haft nicht zurecht, mehrere Fluchtversuche scheitern kläglich. Doch dann findet er sich ab, macht einen Fernkurs zum Buchhalter. Und wieder läuft er. Wie in Heisenbergs Film joggt Kastenberger bei seinen täglichen Hofstunden Runde um Runde. Wie schon in seiner Jugend hilft ihm auch in der Haft der Sport, mit seiner Situation zu Rande zu kommen. Der Gefängnisdirektor wird später zu Protokoll geben, dass Kastenberger immer in Sportklamotten unterwegs war: „Der Trainingsanzug war sein Rückgrat. Wenn man ihm den auszog, nahm man ihm seine Sicherheit.“

1984 wird Kastenberger entlassen. Er lernt eine Frau kennen, sie ist sechs Jahre älter als Johann Kastenberger, das Wiener Nachrichtenmagazin „profil“ wird daraus später ableiten, dass sie für ihn so etwas wie ein Mutterersatz war. Kastenbergers Freundin hat einen guten Job in einem großen Wiener Hotel, er selbst kommt in der realen Arbeitswelt nicht an. Kastenberger lebt von den umgerechnet 400 Euro, die Österreich damals Arbeitslosen pro Monat gewährt.

Wenn seine Freundin morgens ins Hotel zur Arbeit fährt, zieht er seine Laufschuhe an und rennt durch Wien. Wie ein Besessener. Er joggt durch den Prater, durch die Donauauen, durch das hügelige Umland. Er wird immer besser, nimmt erfolgreich an einigen Volksläufen teil, gewinnt sogar einen relativ bekannten Berglauf in der Steiermark – mit einer Siegeszeit, die bis heute unerreicht ist.

Er gewinnt an Selbstbewusstsein. Wie jeder passionierte Marathonläufer weiß auch Kastenberger, dass sich die Qual spätestens bei Kilometer 35 in Glück verwandelt, dass irgendwann das Hirn abschaltet und die Beine zwanghaft weiterlaufen. Das kann ein gutes Gefühl sein, ein Rausch, der einen unbezwingbar erscheinen lässt.

Irgendwann bei einem dieser Trainingsläufe wird „Pumpgun-Ronnie“ geboren.

Er besorgt sich die Schrotflinte. Er besorgt sich die Maske, kauft neue Laufschuhe. Und dann schlägt er los.

Bei seinem ersten Überfall im November 1987 erbeutet er gerade einmal 87 000 Schilling, 6000 Euro. Doch die Überfallserie im Februar macht ihn schlagartig zum Schilling-Millionär.

Aber Kastenberger gibt das Geld nicht aus. Er trägt es zur Bank.

Im Frühjahr 1988 wird offensichtlich, wie unterschiedlich die veröffentlichte Person des „Pumpgun-Ronnie“ und Johann Kastenberger sind. Während Ronnie als Superganove durch die Schlagzeilen rauscht, lebt Kastenberger weiterhin mit seiner Freundin in einer kleinen, sauberen aber schmucklosen Wohnung in einer Wiener Arbeitergegend. Das Geld hat er bei insgesamt zwölf Banken durchaus gewinnbringend angelegt, doch er greift fast gar nicht darauf zu. Als nach seinem Tod die Beute sichergestellt wird, fehlen gerade einmal knapp 30 000 Euro – die hat er in einen unauffälligen japanischen Kleinwagen, in eine Zahnbehandlung für seine Freundin und in sportmedizinische Untersuchungen für sich investiert. Kastenberger gibt den Hausmann, räumt auf, kauft ein, wäscht.

Die Nachbarn beschreiben ihn als freundlich und hilfsbereit. Er ist ein Biedermann, als Kastenberger angekommen in der Sicherheit und Ruhe, die er offenbar gesucht hat.

Im Sommer 1988 gerät Kastenberger ins Visier der Fahnder, zunächst einmal gar nicht wegen der Banküberfälle. Es geht um einen ungelösten Mordfall aus dem Jahr 1985. In Niederösterreich war damals ein Mann, scheinbar ohne Grund, an seiner Wohnungstür mit einer Schrotflinte erschossen worden. Der Mann hatte eine Umschulung besucht, im selben Kurs wie Kastenberger. Nach dem Mord war er zwar verhört worden, doch die Polizei benötigte fast drei Jahre, um festzustellen, dass er damals ein ziemlich dürftiges Alibi hatte. Ende Oktober 1988 zog sich die Schlinge um Kastenberger zu – er wird verhaftet. Im Trainingsanzug.

Auch dieses Mal gesteht Kastenberger sofort: Er ist „Pumpgun-Ronnie“. Auch den Mord in Niederösterreich gibt er zu. Der Typ habe ihn bei der gemeinsamen Umschulung genervt und trotz Rauchverbots in der Klasse geraucht. Für den Asketen Kastenberger war das zu viel.

Doch dann passiert den Polizisten eine weitere Panne: Kurz sind die beiden Vernehmungsbeamten abgelenkt, Kastenberger nutzt das zur Flucht. Er springt aus dem ersten Stock des Wachzimmers – und startet seinen letzten Lauf. Wieder ist es einer gegen den Polizeiapparat, einer gegen 400 Polizisten, 34 Diensthunde und drei Helikopter. Er durchbricht mehrmals diverse Polizeisperren. „Pumpgun-Ronnie“ versteckt sich. Er läuft. Er überwältigt zwei Polizisten, nimmt einem von ihnen die Dienstwaffe weg.

Einem Rentner raubt er das Auto, will mit dem Wagen zurück in seine Heimatgemeinde flüchten. Wahrscheinlich machte er sich Hoffnungen, dort, zu Hause, untertauchen zu können.

Erst das Auto half, den Marathonläufer zu fassen, so sieht es zumindest Franz Polzer von der niederösterreichischen Polizei: „So lange er querfeldein lief, war es für uns schwierig. Sobald er im Auto saß, war er für uns leicht verfolgbar.“ Kurz vor St. Pölten stellt ihm die Polizei eine Falle. Er ist umzingelt, greift zur Waffe. Mit einem Schuss in die rechte Schläfe beendet Johann Kastenberger sein letztes Rennen selbst.

Franz Polzer hat nach dem Fall Kastenberger in der Polizei eine steile Karriere gemacht. Der Mann, der damals die Suche koordinierte, sitzt heute in einem St. Pöltner Büro als Leiter des niederösterreichischen Kriminalamts. Richtig berühmt wurde er durch zwei aktuellere Fälle: Er leitete sowohl im Falle Natascha Kampusch als auch im Inzestfall von Amstetten die Ermittlungen. Wenn er heute an Kastenberger denkt, dann erinnert er sich an einen „intelligenten Menschen. Er war nicht präpotent, sicher kein Idiot. Aber letzten Endes, und das darf man bei der Romantisierung nicht vergessen, gab ihm das nicht das Recht, andere zu erschießen oder ihnen ihr Geld wegzunehmen.“

Kastenbergers damalige Freundin lebt immer noch in Wien, in derselben Gegend wie vor 25 Jahren. Sie ist heute 58 Jahre alt und wieder zu ihren familiären Wurzeln zurückgekehrt: Wie ihre Eltern führt sie heute ein Gasthaus. Es ist ein kleines, sauberes Wirtshaus am Stadtrand, in einem flachen Gebäude, mit großem Gastgarten und einem gemütlichen Kachelofen. Über Kastenberger will sie nicht mehr reden: „Die Geschichte ist schon viel zu lange her, was soll das jetzt noch alles bringen?“

Das Motto ihres Lokals lautet übrigens: „Wo das Leben lebenswert ist.“ Eilig hat es in dem Lokal niemand.

Markus Huber, Eva Winroither

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