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Panorama: Die Helden sind tot

Nach dem Geiseldrama bei Olympia 1972 in München ging es immer um die Täter und ihre Opfer. Für die überlebenden israelischen Sportler hat sich 40 Jahre niemand interessiert. „Es gab überhaupt keine Fragen“, sagt der Fahnenträger von damals, Henry Hershkovitz. Warum eigentlich nicht?

In seinem Laden in der Ben-Yehuda- Straße Nummer 5 schaut der Uhrmacher Henry Hershkovitz durch eine Lupe ins Innere einer komplizierten Mechanik. Er repariert eine Armbanduhr. Die Werkstatt und das Geschäft sind nicht groß, eingequetscht zwischen anderen Läden. Das graue Haar hat der 86-jährige Uhrmacher fein zurückgekämmt, und sein Schnauzer glänzt silbern in der Tel Aviver Mittagssonne. Sie fällt grell in seine Welt aus kleinen Zahnrädern, Federn, Zeigern.

Um elf Uhr schlagen sämtliche Uhren in seinem Laden Alarm, eine nach der anderen, glockenhell bis kirchentief.

Solange er diesen Aufruhr hört, weiß Hershkovitz, dass seine Zeit noch nicht um ist. Aber 40 Jahre lang hat er sich gefragt: warum eigentlich nicht?

Jetzt zuckt der alte Uhrmacher mit den Schultern und schaut zur Decke. „Jemand da oben hat eine Liste“, sagt er. „Und wenn deine Zeit gekommen ist, kannst du nichts dagegen machen.“ Er schaut wieder auf die Armbanduhr vor sich, versunken in den Gedanken, dass in der Welt alles seinen Platz hat, und schiebt hinterher: „Ich war eben nicht auf der Liste.“

Vielleicht wäre es für ihn leichter gewesen, auf dieser Liste zu stehen als eben nicht. So musste er die Folgen dessen ertragen, was bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München als großer nationaler Glücksmoment für sein Land begonnen hatte und in einem Blutbad endete. Hershkovitz war unter denen, die die Habseligkeiten derjenigen, die ermordet worden waren, einsammelten. Es waren die Sachen von Freunden, die ein paar Tage zuvor beim Einzug ins Olympiastadion neben ihm gelacht hatten. Aber vor allem musste er hinnehmen, dass die Toten wichtiger wurden als sie, die Davongekommenen.

Hershkovitz saß in der El-Al-Sondermaschine, die am 7. September von München nach Tel Aviv zurückkehrte. Elf Särge flogen im Frachtraum mit, während in Deutschland die Spiele weitergingen, als sei nichts geschehen. Bei der Ankunft wartete seine Frau Sedi am Flughafen. Eine Frau, die gerne roten Lippenstift zu ihren blonden Locken trug. Eine Frau, die den Horror der Geiselnahme am TV verfolgt hatte und sich ihrem Mann nun in die Arme werfen wollte. Aber Hershkovitz sagte: „Du siehst, dass ich mit Gottes Hilfe wieder hier bin. Jetzt geh!“

Es sei nicht die Zeit für Umarmungen gewesen, sagt Hershkovitz über sein Vergrößerungsglas gebeugt heute. Er spürte es vom ersten Tag an: Es liegt keine Freude darin, entkommen zu sein, während andere gestorben sind. „Du musst arbeiten, um zu vergessen“, sagt Hershkovitz. „Was hätte ich denn anderes tun sollen?“

In der Welt eines Uhrmachers gibt es keinen Konjunktiv, kein Was-wäre-wenn. Uhren werden wieder aufgezogen, sobald sie stehen bleiben, und niemals gegen den Uhrzeigersinn neu eingestellt. Ein Zurück gibt es nicht.

In diesem Frühjahr hat der Uhrmacher eine Ausnahme gemacht. Er verließ den Laden, den er in dritter Generation führt, und machte eine Reise, gegen den Uhrzeigersinn. Sie führte ihn an die Brüstung im Vip-Bereich jenes Stadions, das er mit einem der glücklichsten Momente seines Lebens verbindet. Dort unten habe er die Fahne seines Landes in die Arena getragen, sei den 15 Mitgliedern der kleinen israelischen Delegation voranmarschiert, sagt Henry Hershkovitz an einem Tag im Mai im Münchner Olympiastadion. Ein kleines, stolzes Team aus Ringern und Fechtern, Gehern und Seglern sei das gewesen. Eine israelische Mannschaft drei Jahrzehnte nach dem Holocaust in einem neuen, friedlichen und fröhlichen Deutschland. „Das war fast wie die Geburt eines Kindes“, erinnert sich der Fechter Dan Alon, 67 Jahre alt, der neben Hershkovitz an der Brüstung lehnt.

Sieben Mannschaftskameraden von damals sind nach München gekommen, zum ersten Mal gemeinsam, an die Orte der Spiele und der Tat. 40 Jahre danach. Sie blicken auf das leere Stadion mit tausenden hellgrüner Sitze. Don Alon entfährt der Satz: „Leider bin ich hier als Terroropfer.“ Er mag die Stadt und ihre Menschen noch immer. Schon sein Vater war Fechter, und sein Sohn ist es auch. Dan Alon wurde fünf Mal israelischer Meister. „Nach dem Attentat aber“, berichtet er, „konnte ich das Florett nicht mehr in die Hand nehmen.“

Und all diese Zeit über fragten sie sich: Warum hat nie jemand mit uns geredet, warum wollte keiner etwas über uns wissen, die wir dabei waren?

„Anatevka“ hatte sich die Mannschaft am Abend zuvor angesehen, das jiddische Musical über den Milchmann Tevje, das im Original „Fiddler On The Roof“ heißt. Spät kamen sie in ihr Quartier zurück in der Connollystraße 31 auf dem Olympiagelände. Es gab Zutrittsausweise für die Athleten zum Olympischen Dorf, aber keine Kontrollen. „Jeder, der einen Trainingsanzug trug, kam in das Gelände rein“, erinnert sich der einstige Geher Shaul Paul Ladany.

Um 4.45 Uhr stürmten palästinensischen Terroristen das Haus. Zwei Israelis wurden sofort erschossen, weitere neun wurden als Geiseln genommen. Das Terrorkommando, das sich den Namen „Schwarzer September“ gegeben hatte, wollte mit der Geiselnahme mehr als 200 in Israel inhaftierte Palästinenser freipressen. Ziel war auch, das Palästinenserproblem zu „internationalisieren“, wie es hieß – also mit terroristischen Mitteln in andere, möglichst einflussreiche westliche Länder hineinzutragen. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher verhandelte mit dem Anführer. Er bot sich im Austausch für die Israelis als Geisel an. Als die Palästinenser und ihre Geiseln in der Folgenacht in zwei Hubschraubern zum Fliegerhorst Fürstenfeldbruck ausgeflogen wurden, dort sollte eine Fluchtmaschine bereitgestellt werden, kam es zur Befreiungsaktion. Sie missglückte. Sämtliche Geiseln kamen ums Leben.

Die anderen Sportler im Mannschaftsquartier konnten sich während der Geiselnahme in Sicherheit bringen. Dan Alon floh durch den Garten, ebenso Henry Hershkovitz. Der bereits angeschossene Trainer Moshe Weinberg hatte die Terroristen ins Apartment drei gewiesen. Man hatte ihn offenbar gezwungen zu sagen, wo sich weitere Sportler befanden. Im Apartment drei waren „die starken Athleten, die Gewichtheber und Ringer“, erzählt Ladany. Im Apartment zwei, das die Palästinenser nicht in den Blick nahmen, waren die Kleineren, Grazileren untergebracht, Fechter, Schützen, Geher, die dann flohen. „Weinberg dachte, die Starken könnten sich besser wehren.“ Sie konnten es nicht.

„Es ist nicht einfach, mit dem Leben davongekommen zu sein“, sagt der Filmproduzent Emanuel Rotstein. Für eine Dokumentation des Pay-TV-Senders Biography Channel hat er die sieben Israelis erstmals gemeinsam nach München geholt. Überrascht stellte er bei den Recherchen fest, dass es einsam macht, ein Überlebender zu sein. Bisher hatte kaum jemand mit ihnen gesprochen, sich nicht für ihr Schicksal interessiert. Jeder war seiner Wege gegangen. Aus ihnen wurden Piloten, Restaurantbetreiber, Softwareentwickler, und ein Professor für Arbeitsingenieurwesen ist auch darunter.

„Die Toten waren die Besten“, sagt Henry Hershkovitz, und er meint das sehr ernst. „Ich habe seither jeden Tag an diese 21 Stunden gedacht.“

Manche der Überlebenden sind jetzt zum ersten Mal wieder in München, Zelig Shtorch aber hat die Stadt regelmäßig besucht. „Ich war sicherlich schon 20 Mal wieder im Olympischen Dorf“, erzählt der 66-Jährige, damals Sportschütze wie Hershkovitz. Kleinkaliber liegend. Er arbeitet als Reiseführer. Den israelischen Touristengruppen zeigt er auch die Connollystraße 31, in der heute die Max-Planck-Gesellschaft ein Gästehaus unterhält, und er sagt, dass er damals mit dabei war an diesem Ort.

Etwas anderes aber erzählt Shtorch erst jetzt in München. „Es frisst sich seit 40 Jahren in mich rein.“ Und für einen langen Moment fällt es dem Touristenführer mit dem massigen Körper und dem kurz gehaltenen grauen Vollbart schwer, die Worte zu finden. „Ich stand hinter einem Vorhang versteckt, vor mir der Terroristenboss, ich hatte das geladene Gewehr gegen ihn gerichtet“, sagt Shtorch. Issa hieß der Anführer, der eine schwarze Maske und darüber einen weißen Hut trug. „Er hat mich nicht bemerkt, ich hätte ihn erschießen können“, sagt Shtorch. Er zögerte. Die Gelegenheit verstrich. Seitdem steckt die bohrende Anklage in ihm, und sie verstummt nicht. Es ist eine Anklage im Konjunktiv: Was wäre geschehen, wenn ... „Ich habe es tausend Mal durchgespielt“, meint Zelig Shtorch. „Wären weniger getötet worden? Oder mehr?“ Es ist sein Verstand, der ihm sagt: „Ich bin froh, dass ich nicht geschossen habe.“

Es gab niemanden, der Shtorch danach einen Vorwurf gemacht hätte. Auch Sportschütze Hershkovitz denkt heute, dass er hätte schießen können. Er hätte sein Kleinkalibergewehr holen können in jener Nacht, da er einen der Terroristen unten auf der Straße sah. Natürlich hätte er ihn erledigen können. „Auf diese Distanz gar kein Problem.“ Ganz präzise hätte er das machen können. Aber auch er hat es nicht getan.

Hershkovitz zieht seine Brille ab und schlägt einen alten Bildband auf. Darin das Foto vom Einzug der israelischen Delegation ins Münchner Stadion. Mit dem Gestell tippt er auf diejenigen, die überlebt haben, so wie er. Darunter Sportschützenkollege Shtorch. „Zugelegt hat er“, sagt Hershkovitz und zwinkert ein bisschen. „Richtig geredet haben wir nie über damals.“ Hershkovitz sagt es und schwingt sich wieder hinter seinen Werktisch.

Seit 1971 betreibt er diesen Uhrladen in der Ben Yehuda Nummer 5. Um die Ecke liegt der Strand, und die Straßen in diesem Teil der Stadt sind Alleen aus Restaurants, Bars und Bekleidungsgeschäften. Dazwischen repariert Hershkovitz die zerbrochene Zeit. Geboren wurde er in Rumänien. Während des Krieges musste er mit seiner Familie fliehen, später schaffte er es in die rumänische Nationalmannschaft der Sportschützen. Aber als Jude, sagt Hershkovitz, habe er nicht zu Wettbewerben ins Ausland fahren dürfen, sei übergangen worden bei der Auswahl. Kurz vor dem Sechstagekrieg wanderte Hershkovitz nach Israel aus, es war der Beginn seines zweiten Aufstiegs.

Die Menschen, die Hershkovitz’ Laden an diesem Vormittag betreten, sehen den Uhrmacher in ihm, nicht den Olympiahelden. Als es kurz mal ruhig ist, dreht er die Zeit dann doch ein Mal zurück, ins Jahr 1975. In Teheran finden damals die Asienspiele statt und wieder läuft Hershkovitz der israelischen Delegation mit der Fahne voran. Er erinnert sich an Soldaten mit Maschinenpistolen, sogar bei der Gepäckabholung, an die Wachen vor den Apartments. Hershkovitz fühlt sich im Iran des Schahs sicher und fragt sich noch heute, wie der Monarch gestürzt werden konnte, wie die extremistischen Kräfte langsam den Iran formten, dessen Drohungen nun ständig über die Bildschirme in israelischen Wohnzimmern flimmern.

Es war sein letzter großer Auftritt als Sportschütze. Sein Vater erkrankte, Hershkovitz pflegte ihn und ließ das Training schleifen, verlor seinen Platz im Kader. Seine Ziele verschoben sich, weg von der Scheibe. Fortan widmete er sich nur noch der Präzision von Uhrwerken. „Ich war der beste Uhrmacher unter den Schützen, und ich war der beste Schütze unter den Uhrmachern“, sagt er. Für beides braucht man eine ruhige Hand.

Dabei hätte Hershkovitz gerne geredet, doch geholfen hat ihm dabei keiner. Weder Israel noch das Olympische Komitee. „Niemand hat uns gefragt, wie es uns geht, ob wir eine Behandlung bräuchten. Es gab überhaupt keine Fragen.“

Aber er habe doch funktioniert? Wie seine Uhrwerke.

„Ich war nicht okay.“, sagt er, und seine ansonsten fröhlichen braunen Augen werden etwas traurig. Er glaubte, Neid zu spüren, dass er überlebt hatte, und auch Unverständnis, warum die Überlebenden sich nicht stärker gewehrt, nicht mehr dafür getan hatten, die Freunde zu retten.

Erst jetzt, 40 Jahre nach dem Attentat, ist plötzlich Interesse da. Zuerst erscheint ein israelischer Dokumentarfilm, dann ein deutscher. Zum ersten Mal geht es um die Überlebenden. „Ich bin eigentlich kein emotionaler Typ“, sagt Hershkovitz, aber diesen Teil seiner Geschichte in bewegten Bildern zu sehen hat die Uhrzeiger mit Macht auf 1972 zurückgedreht.

Nach der Premiere in Israel kommt die Frau des getöteten Trainers Weinberg auf Hershkovitz zu. „Wir haben das Gefühl“, sagt sie, „dass du dich schämst. Du hast keinen Grund dazu.“

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