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Panorama: Die Rückkehr der Unwiederbringlichen

Wie das ist, mit 22 Jahren sprechen zu lernen? Danu lacht auf und wirft den Kopf kurz in den Nacken.

Wie das ist, mit 22 Jahren sprechen zu lernen? Danu lacht auf und wirft den Kopf kurz in den Nacken. Dann schaut er streng und sagt: "Sprechen macht die Augen groß bei den Zuschauern. Und immer legen sie Arme um meinen Kopf und lachen oder weinen dann." Danu ist von der Reaktion seiner Gegenüber mehr überrascht als davon, plötzlich sprechen zu können. "Das fasziniert ihn, dass er mit Worten bei anderen solche Gefühle auslösen kann", sagt seine Logopädin.

Danu ist ein Cighid-Kind. Bis 1989 war der Name des ehemaligen Jagdschlosses im Norden Rumäniens Synonym für Kindergulag - ein Wartesaal zum Jenseits. Unvergessliche Bilder gingen um die Welt, von debilen Kindern, die mit ihren Exkrementen nach den Rettern warfen, als diese vor zwölf Jahren die Holzverschläge und Gitter von Türen und Fenstern rissen. Heute geht es den Kindern in Cighid gut. Jene, die nicht behindert, aber verwahrlost waren, können dank geschulter Therapeuten laufen und sprechen. Sie haben aufgeholt, was ihnen die Jahre dauernde Nacht verwehrt hatte.

Mehr als 240 Kinder sollten hier sterben, weil es für sie in Rumänien nach der Doktrin des Diktators Nicolae Ceausescu keinen anderen Platz gab. Ceausescu hatte den rumänischen Frauen die Fruchtbarkeit befohlen und Verhütung oder Abtreibung verboten, bevor sie fünf Kinder gebaren. Niemand weiß, wie viele Kinder behindert geboren wurden, weil ihre verarmten Mütter versuchten, die Föten mit Drähten oder mit einer Überdosis Medikamten zu töten. Unzählige im Stich gelassene Neugeborene wuchsen in Waisenhäusern auf. Leben mussten sie mindestens drei Jahre - um die UN-Statistiken für die Geburtenrate aufzupolieren: Je geringer die Säuglingssterblichkeit, umso höher gilt der Zivilisationsgrad des Landes.

Im Alter von drei Jahren wurden die Kinder so genannten Intelligenztests unterzogen: Die Gesunden und Starken blieben - und wurden für den Securitate-Geheimdienst ausgebildet. Die Behinderten, die Schwachen und die Zigeuner kamen nach Cighid - "unwiederbringlich".

In Cighid sollten sie sterben - indem sich niemand um sie kümmerte. Die überforderten Heimfrauen, die einen kargen Lohn, aber keine Lebensmittel für die Verwahrung der Kinder erhielten, sperrten die "Unwiederbringlichen" weg. Eine Bäuerin brachte gelegentlich zähen Brei, den die Kinder nur am Geruch von ihrem Kot unterscheiden konnten. Die zuständige Ärztin stellte oftmals schon Totenscheine für Kinder aus, die noch lebten, in fensterlosen Verschlägen vegetierten, mit Raureif auf nackter Haut. 137 Kinder hielten das nicht aus, an jedes erinnert ein weißes Holzkreuz auf dem Friedhof.

Mit vielen Spendengeldern - auch von Tagesspiegel-Lesern - wurde das Jagdschloss saniert und vier weitere Häuser gebaut, in denen die Kinder in familienähnlichen Strukturen mit in Hamburg ausgebildeten Therapeuten leben. Vater, Freund, und Mediziner von mehr als 100 Kindern ist seitdem Pavel Oarcea. Der Kinderarzt wohnt und lebt seit 1989 in Cighid. Und arbeitet sich krumm seitdem, als Mädchen für alles: "Das, was mir diese Kinder gegeben haben, kann ich ihnen niemals zurückgeben."

Intellektuell und motorisch zurückgeblieben, zu klein für sein Alter und nach Jahren in der Strafkammer, dem "Isolator" war auch Danu. Seine Zunge war zu weit angewachsen, er lallte nur. Wie traumatisiert führte der damals Elfjährige seinen Rettern vor, wie er eine Ratte erschlug, die ihn beißen wollte. Im letzten Sommer wurde Danus Zungenband operiert. Jetzt kann er sprechen, mit 22 Jahren. Seine Logopädin Ramona hilft ihm, seine Gedanken in Worte zu fassen, die richtigen Wort zu finden: "Er hat so viel Schlimmes erlebt und war in der sprachlosen Zeit gezwungen, alles mit sich auszumachen. Er kann sich kaum auf das Sprechen konzentieren, weil er seine Eindrücke immer nur gespeichert, aber nie äußern oder verarbeiten konnte." Heute, sagt sie, will Danu vor allem arbeiten, sich um andere kümmern und Späße machen.

Im Herbst musste Danu Cighid verlassen. Die rumänischen Gesetze verlangen, dass erwachsene Behinderte von Kindern getrennt werden. Danu und acht weitere Jugendliche über 18 Jahren hätten in eine geschlossen Psychatrie überwiesen werden müssen. Pacel Oarcea schlug Alarm: "Haben die Kinder überlebt, um weggesperrt zu werden?" Die Evangelische Stiftung Alsterdorf Hamburg, Pate von Cighid, kaufte im Herbst in der Kreisstadt Oradea zwei Häuser, in denen Danu und seine Freunde zusammen leben können. Sie gehen zur Berufsschule. Danu will Kfz-Mechaniker werden, und Taxi-Fahrer. "Nicht für Geld, als Geschenk", sagt er, will er dann all seine Freunde und Helfer von Cighid kutschieren. Und viel erzählen.

Claudia Lepping

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