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Panorama: Die Schriftstellerin erinnert sich daran, dass sie als Kind nicht katholisch sein durfte

In diesen Tagen, während des Papstbesuchs in Israel, denke ich oft an ein kleines deutsches, frommes, katholisches Mädchen, das während der Nazizeit in Berlin lebte. Es war unehelich geboren worden und traf niemals seinen Vater, der übrigens starb, als das Mädchen gerade erst ein paar Jahre alt war.

In diesen Tagen, während des Papstbesuchs in Israel, denke ich oft an ein kleines deutsches, frommes, katholisches Mädchen, das während der Nazizeit in Berlin lebte. Es war unehelich geboren worden und traf niemals seinen Vater, der übrigens starb, als das Mädchen gerade erst ein paar Jahre alt war. Das Mädchen wusste nichts über seinen Vater, am wenigsten, dass er Jude war, ein Faktum, das auch für ihn selbst keinerlei Bedeutung hatte. Die Mutter des Mädchens war ebenfalls eine geborene Katholikin, ihr Vater, der Großvater des Mädchens, war als Jude geboren worden, aber konvertierte, als er sich mit der streng katholischen Großmutter des Mädchens verheiratete. Auch darüber wusste das Mädchen nichts, warum sollte es auch? Es wuchs in einem intellektuellen Heim auf, das vom deutschen Kulturerbe und einem starken, aber relativ toleranten Katholizismus geprägt war. Dazu trug auch der Mann bei, mit dem sich die Mutter verheiratet hatte, und der der Vater des Mädchens wurde. Er wurde ein Teil von ihr, ebenso wie der katholische Glaube ein Teil von ihr war und die einzige religiöse Lebensform, die das Mädchen kannte.

Es dauerte aber nur wenige Jahre, bis das Mädchen gezwungen wurde, einzusehen, dass es keinesfalls ein Heimatrecht darauf hatte, zum deutschen Volk zu gehören, zur deutschen Kultur oder zur katholischen Kirche. Nach der Rassenmathematik dieser Zeit wurde das Mädchen zur "Volljüdin" abgestempelt, eine Folge davon, dass ihr Vater und ihre Großeltern als Juden klassifiziert wurden (dass der Großvater konvertierte, bevor er sich mit der Großmutter verheiratete, wurde nicht berücksichtigt). Sie wurde mit dem gelben Judenstern gebrandmarkt, und ihr wurde der Zutritt zu öffentlichen Plätzen, Schwimmbädern, Kinos und so weiter untersagt. Nein, Kirchen wurden in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnt, deshalb glaubte das Mädchen, dass es nichts Unrechtes tat, als es eines Tages, als alles besonders düster und unbegreiflich schien, in eine katholische Kirche in Berlin schlüpfte, um Trost bei der Jungfrau Maria zu suchen. Zur Mutter Gottes hatte das Mädchen eine besondere Beziehung, und zwar nicht nur deshalb, weil sein zweiter Name Maria war. Das Mädchen wurde eines Besseren belehrt. Eine wütende Frau entdeckte dieses Kuckucksjunge im heiligen Nest, und Cordelia Maria wurde bildlich und buchstäblich in die Gosse befördert, die man für ihr rechtes Zuhause hielt.

Ja, dieses Mädchen war ich. Nein, ich erinnere mich nicht mehr an die Details. Versuchte ich, mich zu erklären und zu verteidigen? Mein Heimatrecht auf diesen Platz zu behaupten? Ich entsinne mich nicht, und es hätte sicher ohnehin keinen Unterschied gemacht. Ich musste ja auch die katholische Mädchenvereinigung verlassen, der ich angehörte; die Leitung befürchtete, dass die Vereinigung verboten würde, wenn dort "Juden" Mitglieder waren. Ich erinnere mich, dass der Wahlspruch der Vereinigung war: "Alle für einen, einer für alle."

Ich bin vor langer Zeit aus der katholischen Kirche ausgetreten. Nicht wegen des Verrats an den Verfolgten, derer sich die Kirche und so viele Gläubige schuldig machten, sondern weil mir klar war, dass ich wählen musste. Für die Überlebende von Auschwitz gab es nur eine Wahl: sich für das jüdische Volk zu entscheiden. Aber ich vergaß wohl nie den Schmerz des Ausgestoßenseins, der Verleugnung.

Jetzt, gut sechzig Jahre später, glaube ich, dass diese Wunde endlich heilen kann. Der offizielle Sprecher des Vatikans versichert untentwegt, dass die Reise des Papstes in das Heilige Land eine reine Pilgerfahrt sei, ohne irgendwelche politischen Untertöne. Gewiss! Aber ist es nicht üblich, dass Pilgerreisen oft als Buße unternommen werden? Wir, die wir die Reise Johannes Pauls II. aus der Nähe verfolgen können, wir, die wir die enorme Anstrengung des 80-Jährigen, sich aufrecht zu halten, am eigenen Leib nachempfinden, wir sind überzeugt davon, dass das nicht nur die private Pilgerreise des Papstes ist, sondern die Buße der Kirche für die unzähligen Kränkungen, die jahrhundertelang in ihrem Namen dem jüdischen Volk zugefügt wurden. Natürlich kann die katholische Kirche nicht für die größte Katastrophe des jüdischen Volkes, den Holocaust, zur Verantwortung gezogen werden. Aber man kann sich fragen, ob der unverhüllte Hass der katholischen Kirche und die Verachtung des Volks der "Gottesmörder" nicht den Weg zum Holocaust bereitet haben, selbst wenn dieser rassistische und nicht religiöse Ursachen hatte.

Das Bild von Johannes Paul II., der Schritt für Schritt und mit großer Mühe auf Israels zwei Oberrabbiner zugeht, die den Papst in Jerusalem empfangen dürfen, ist unvergesslich. Das Bild bestätigt eine theologische Revolution des Inhalts, dass die Kirche allen Anspruch auf religiöse Oberhoheit über das Judentum aufgibt. Jahrhundertelang wurde der Unterschied zwischen der Kirche und der Synagoge in der Kirchenkunst durch die Skulpturen zweier Frauen symbolisch dargestellt: die eine strahlend und siegessicher, die andere mit einer Binde vor den Augen, blind und von Sorgen geplagt. Der alte, gebrechliche, von Krankheit gezeichnete Johannes Paul II. ist ein unwahrscheinlicher Bilderstürmer, aber er ist es, der die neue theologische Gleichheit zwischen Kirche und Synagoge besiegelt.

Durch ihn wird das Wort vom Judentum als der "ältere Bruder" des Christentums zu Fleisch, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Johannes Paul II. gab sich nicht damit zufrieden, dem Judentum seinen Respekt zu bezeugen. Der Papst erkannte auch die Juden als Volk mit Heimatrecht im Staat Israel an, indem er dem israelischen Präsidenten Chaim Weizman einen Höflichkeitsbesuch abstattete, ebenfalls ein Programmpunkt während seiner "Pilgerreise". Hiermit bereitete der Papst dem Mythos vom wandernden Juden, der zur Strafe dafür, dass die Juden Christus nicht als Messias anerkannten, zum ewigen Exil verurteilt wurde, ein Ende. Noch 1904 erklärte Papst Pius X. Theodor Herzl, dass die Kirche aus theologischen Gründen eine Freistatt für die schon damals verfolgten Juden im damaligen Palästina nicht unterstützen würde. Da sich die Juden bis zum heutigen Tag weigern, Jesus von Nazareth als Gott und Messias anzuerkennen, "können wir (die Kirche) das jüdische Volk nicht anerkennen", stellte der Papst fest, aber versprach, für die Juden zu beten und die Priester im Heiligen Land zu ermahnen, bereit zu sein, die Juden, die nach Palästina kamen, zu taufen. Erst 1994 war die Zeit reif für die gegenseitige diplomatische Anerkennung zwischen Israel und dem Vatikanstaat. Der Höflichkeitsbesuch Johannes Paul II. beim israelischen Präsidenten war eine erneute Bestätigung für das radikale Umdenken des Heiligen Stuhls im Hinblick auf seine historische, theologische und politische Beurteilung des Judentums und des jüdischen Volks. (Das steht in keiner Weise im Widerspruch zum Recht der Palästinenser auf ein Leben in Freiheit und Würde in einem eigenen Staat. Ein Recht, das nicht nur der Papst, sondern auch die Mehrzahl der Israelis inzwischen anerkennt.)

Und zum Ausgangspunkt zurück zu kommen: Mein tiefer Respekt, und warum nicht auch meine Dankbarkeit für die grundlegende Veränderung der Beziehung zwischen Juden und Katholiken, die Johannes Paul II. während seines Israelbesuchs erreichte, haben keinesfalls zur Folge, dass ich jetzt in die Arme der Kirche zurückzukehren gedenke. Ich habe gewählt, und gelegte Karten liegen. Aber es scheint, als ob der Kreis zwischen dem kleinen Mädchen in Berlin und der erwachsenen Frau in Jerusalem geschlossen worden ist, und als ob alte Wunden endlich heilen können. "Das ist genug", wie es in der Liturgie zum jüdischen Pessach-Fest heißt.Cordelia Edvardson, 1929 als Tochter der katholischen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer geboren, ist in Berlin aufgewachsen. Sie wurde als Schülerin 1944 nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Über diese Zeit und die Folgen verfasste sie ihre preisgekrönten Bücher "Gebranntes Kind sucht das Feuer" und "Die Welt zusammenfügen." Seit 1974 lebt sie als Korrespondentin der Stockholmer Zeitung "Svenska Dagebladt" in Jerusalemn. Übersetzung aus dem Schwedischen: Josefine Janert

Cordelia Edvardson[1929 als Tochter der katholisc]

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