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Panorama: Die Stadt der Sprechblasen

Das französische Angoulême gilt als Hauptstadt des Comics. Vom großen europäischen Festival profitieren auch Berliner Künstler.

Damit hatte Art Spiegelman nicht gerechnet. Als der New Yorker Autor auf dem kleinen Bahnhof von Angoulême drei Stunden südlich von Paris ankam, wurde er empfangen wie ein Staatsgast. Zwei Dutzend Kamerateams und Fotografen umringten den schmächtigen Mann mit dem grauen Bart und dem Filzhut, der seit seinem mit dem Pulitzer-Preis prämierten Holocaust-Comic „Maus“ weit über die Szene hinaus bekannt ist. Spiegelman ist in diesem Jahr der Präsident des wichtigsten europäischen Comicfestivals, des Festival International de la Bande Desinée – und damit im frankobelgischen Raum ein Superstar.

Nirgendwo sonst in Europa genießt das Medium so einen Zuspruch wie hier, jedes Jahr erscheinen tausende neue Comic-Bücher, deren Auflagen die in Deutschland um ein Vielfaches übersteigen. Und Angoulême, wo an diesem Sonntag erneut die wichtigsten Comicpreise des Kontinents vergeben werden, ist in diesen Tagen die Hauptstadt der so- genannten Neunten Kunst. Die damit verbundene Euphorie ist dem 63-jährigen Spiegelman zwischendurch schon etwas unheimlich. „Ich wusste ja, dass Comics in Frankreich besonders gewertschätzt werden“, erzählt er am Rande einer Veranstaltung. „Aber nach 45 Minuten mit den Paparazzi verstehe ich jetzt, wieso Jim Morrison sich umgebracht hat.“

Dass es sich bei dem 45 000-Einwohner-Städtchen um eine besonders comicverrückte Stadt handelt, sieht der Neuankömmling schon auf den ersten Blick. Wer sich mit dem Auto dem malerisch auf einem Berg gelegenen Angoulême nähert, wird auf der Landstraße mit einem Schild begrüßt, das die mittelalterliche Stadt unter einer überdimensionalen Sprechblase zeigt, in der der Ortsname steht. Jedes Straßenschild und fast jede Hausnummer in der Innenstadt sind ebenfalls in Form von Sprechblasen geschrieben. An den mittelalterlichen Hauswänden finden sich Dutzende Wandgemälde, auf denen prominente Comiczeichner in den vergangenen Jahren zusammen mit Fassadenmalern bis zu 50 Meter hohe Szenen verewigt haben. Und die beiden zentralen Fußgängerzonen in der Innenstadt heißen Rue Hergé und Rue Goscinny, zu Ehren der Autoren von „Tim und Struppi“ und „Asterix“.

Neben fantastischen Szenen im dreidimensional wirkenden Trompe-de-L'OeilStil von Szene-Stars wie André Juillard, Yslaire oder François Schuiten begegnet man dort auch in Deutschland bekannten Figuren: Aus zwei gemalten Fenstern schauen einen der Comic-Cowboy Lucky Luke und sein Pferd Jolly Jumper an, auf einer anderen Fassade findet sich der liebenswerte Comic-Chaot Gaston. „Der Comic hat uns im ganzen Land und darüber hinaus bekannt gemacht“, sagt Yves Merlet, Sprecher der Tourismusfördergesellschaft der Region Poitou-Charentes. 200 000 Besucher aus Frankreich und der ganzen Welt strömen zur Festivalzeit nach Angoulême. Mehr als zehn Millionen Euro lassen sie in vier Tagen hier.

Da versucht jeder, am Rausch der Bilder teilzuhaben: Ein Bäcker wirbt mit Asterix-Zeichnungen im Fenster, darunter der Spruch: „Beim Teutates, Obelix wird hier nicht widerstehen können!“ Ein Dessous-Händler hat Tim-und-Struppi-Figuren und japanische Manga-Puppen zwischen der Spitzenwäsche drapiert. Kirchen zeigen Comicausstellungen, oft mit biblischen Bezügen. Eine Kathedrale lädt für diesen Sonntag zur „Comic-Messe“.

Wer sich rund um das aus einer Burg entstandene mittelalterliche Rathaus durchs Festivalgeschehen treiben lässt, hört immer wieder auch deutsche Sprachfetzen. Verleger aus Hamburg oder Berlin verkaufen hier Lizenzen für Übersetzungen und holen Nachschub für ihr eigenes Programm, man trifft hier manche Stars der überschaubaren deutschen Szene, die in Frankreich oft ein Vielfaches an Büchern verkaufen wie zu Hause. „Hierherzukommen ist so, als ob man als guter Koch, der lange für sich alleine gebrutzelt hat, plötzlich im Feinschmeckerland angekommen ist“, sagt die Berliner Autorin Ulli Lust. Mit ihrer autobiografischen Erzählung „Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens“ hat die gebürtige Wienerin sich zwar auch daheim einen Namen gemacht; sie wurde mit zahlreichen deutschsprachigen Preisen bedacht. In Frankreich aber verkauft sie mehr als doppelt so viele Bücher, in Angoulême, wo sie vergangenes Jahr mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet wurde, stehen auch in diesem Jahr die Fans Schlange, wenn sie signiert. Ebenso wie bei ihrem Berliner Kollegen Reinhart Kleist, dessen gezeichnete Fidel-Castro-Biografie in Frankreich ein Verkaufsschlager ist. „In Deutschland kommt man sich immer noch vor wie ein Freak, wenn man Comics macht – in Frankreich wird man geschätzt“, sagt Ulli Lust. Und zwar nicht nur von Eingeweihten, die in Deutschland allzu oft männliche Fans mittleren Alters sind. Auffällig an Angoulême ist, dass hier vor allem Familien und Schulklassen, die für das Festival einen Tag frei bekommen, durch die Ausstellungen schlendern.

„Angoulême ist zusammen mit dem französischen Comic groß geworden“, erklärt Thierry Groensteen, Verleger und einer der wichtigsten französischen Comictheoretiker und -herausgeber. Mehr als 5000 neue Bücher erscheinen inzwischen auf dem französischsprachigen Markt jedes Jahr, rechnet er vor.

In dieser Flut der Neuerscheinungen sind die Auszeichnungen am Ende des Festivals eine unerlässliche Entscheidungshilfe geworden, sagt Groensteen. Deswegen konzentrieren sich in diesen Tagen alle französischen Medien auf die kleine Stadt, die Zeitung „Libération“ hat gar eine komplette Ausgabe von Comiczeichnern illustrieren lassen. Ein ebenfalls von Zeichnern gestaltetes Sonderheft der regionalen Zeitung „Charente Libre“ fasst auf dem Titel zusammen, welche zentrale Bedeutung Angoulême für die Szene hat: Der Ort sei schlicht „eine der schönsten Städte der Welt“.

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