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Panorama: Die Wut der Armen

Felsbrocken haben in Kairo 35 Häuser eines Slums unter sich begraben – die hätten dort nicht stehen dürfen

Verzweifelt hockt die alte Frau auf dem Boden. Mit bloßen Händen versucht sie, in dem Geröll zu graben – und immer wieder ruft sie die Namen ihrer Tochter und ihrer Enkel. Etwas weiter wuchtet der 30-jährige Salama Abdullah schwere Brocken zur Seite. Sein Gesicht ist weiß vor Staub. Er hofft, seine Nachbarn noch lebend zu finden. Seinen besten Freund Hossam hat er bereits aus dem Chaos von Geröll und Steinen herausgezogen – tot. Am Freitagabend waren die beiden noch zusammen zum Gebet in der Moschee gewesen. „Bevor wir auseinandergingen, haben wir uns zum Sohour verabredet“ – dem traditionellen Frühstück vor Sonnenaufgang im Fastenmonat Ramadan. „Was für eine Katastrophe“, ruft er aus, „niemals hätte ich gedacht, dass ich Hossam nicht mehr lebend wiedersehe.“

Die Katastrophe hatte die Bewohner der Armensiedlung Manschijet Nasr am Samstagmorgen im Schlaf überrascht. Mehrere tonnenschwere Felsen hatten sich auf einer Breite von 60 Metern von den Mukattam-Bergen gelöst und mindestens 35 der Behausungen am Fuße unter sich begraben. Bis Sonntagnachmittag zählte das Gesundheitsministerium 31 Tote und 47 Verletzte, 500 Menschen werden noch unter den Trümmern vermutet. Experten glauben, dass das Kalkgestein durch Abwasser erodiert und mürbe geworden ist.

Manschijet Nasr liegt entlang der Autobahn in die Innenstadt und gehört zu den vielen überfüllten Slumvierteln am Rande von Kairo. Familien leben hier meist in einem Raum zusammengepfercht. Viele sind Wanderarbeiter vom Land, die in der 17-Millionen-Metropole ein Auskommen suchen.

Bis Sonntagnachmittag, also 36 Stunden nach dem Unglück, waren immer noch keine Rettungskräfte mit schwerem Gerät vor Ort angekommen. Um den Kränen und Baggern die Zufahrt zu ermöglichen, mussten in glühender Mittagshitze erst andere Häuser abgerissen werden. Wie AFP berichtete, entlud sich am Sonntag die Wut der Bewohner an der Unglücksstelle. „Die Menschen werfen mit Steinen auf Polizisten und beschimpfen die anwesenden Beamten, weil die Rettungsaktionen so langsam und ineffizient sind“, sagte ein Sicherheitsoffizier.

Offenbar hatte es zuvor schon mehrmals kleinere Gerölllawinen gegeben, wie überlebende Bewohner berichteten. Fast alle zweistöckigen Ziegelbauten in der Gefahrenzone sind ohne Baugenehmigung errichtet. Nach einer Sondersitzung des Kabinetts erklärte Premier Ahmed Nazif, die Regierung werde eine Untersuchung aller illegalen Bauten im Land anordnen. „Es existiert eine Immobilienmafia in Ägypten, ein Netzwerk von korrupten Beamten und Bauunternehmern, die alles tun, um die Gesetze zu umgehen“, erläutert Abdelqader al Gayyar, Büroleiter des Gouverneurs von Giza. Dieser hat jüngst als erster Verwaltungschef Ägyptens die Parole „Handeln, bevor eine Katastrophe passiert“ ausgegeben und im Westen Kairos den Abriss von 35 illegal errichteten Hochhäusern angeordnet. Nach Angaben des Gouverneurs gibt es in ganz Ägypten mehr als 100 000 Gebäude, die teils ohne Aufsicht von Fachleuten errichtet wurden und eigentlich abgerissen werden müssten, weil sie einsturzgefährdet sind.

Zwar existieren seit 1996 schärfere Gesetze, nachdem im Kairoer Stadtteil Heliopolis ein Haus zusammenbrach und 64 Menschen zerquetschte. Trotzdem reißt die Kette der Unglücke nicht ab: Erst im Juli starben fünf Menschen, darunter siebenjährige Zwillinge, als im Nildelta ein Gebäude kollabierte. Im Dezember 2007 wurden in Alexandria 35 Menschen unter den Trümmern eines 12-stöckigen Hochhauses begraben. Zwei Jahre zuvor starben in derselben Stadt 19 Menschen, als ihr Haus unter der Last dreier illegal aufgesetzter Stockwerke einstürzte.

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