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Düstere Vergangenheit: Knochenarbeit in Jekaterinburg

Niemand will sie haben. Die Kirche nicht, der Staat nicht, die Menschen nicht. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wird sie nicht sehen, wenn sie heute Jekaterinburg besucht: Überreste der 1918 ermordeten Zarenfamilie. Symbol der dunklen Seite einer Stadt.

Man wird ihr die funkelnden Neubauten am Ufer des Stadtteichs zeigen, den begrünten Lenin-Prospekt, den majestätischen Rathausplatz. Man wird Angela Merkel mit berechtigtem Stolz durch eine Stadt führen, die ihr sowjetisches Erbe entschiedener abgeschüttelt hat als die meisten anderen Städte der russischen Provinz. Wenn die Bundeskanzlerin am heutigen Mittwoch zu den deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Jekaterinburg eintrifft, wird die Anderthalb-Millionen-Metropole im Ural alles tun, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

Im Verborgenen bleiben wird die dunklere, die tragischere Seite Jekaterinburgs, die so viel erzählen könnte über den Umgang dieses Landes mit seiner Vergangenheit. Verborgen bleiben werden, in einem sehr wörtlichen Sinne, die Leichen in Jekaterinburgs Kellern.

Denn nicht zeigen wird man Angela Merkel eine schäbige Baracke im Südwesten der Stadt. Eine Betonbaracke, deren schwere Stahltür sich eines Tages im Juni 2010 einen Spalt breit auftut, um Sekunden später dröhnend wieder ins Schloss zu fallen, nachdem eine weißbekittelte Frau zwei panische Sätze gerufen hat: „Ich darf nichts sagen! Reden Sie mit meinem Chef!“

Einen Moment lang hallt das Dröhnen nach, bevor es im Vogelgezwitscher untergeht, das an diesem Vormittag das Gelände des Jekaterinburger Bezirkskrankenhauses Nr. 1 erfüllt. Vor der Treppe eines Nachbargebäudes studiert ein Arzt beim Rauchen Röntgenaufnahmen, Patienten schieben quietschende Infusionsständer über den Asphalt, ein Wachhund döst in der Sonne. Normalität einer Heilanstalt, in deren Mitte eine historische Wunde klafft, die nicht heilen will. Die Betonbaracke ist eine Leichenhalle. In ihr werden die letzten Spuren eines Mordfalls verwahrt, der Russland seit mehr als 90 Jahren beschäftigt.

Der Chef der weißbekittelten Frau heißt Wladimir Gromow. Er ist Pathologe, kraft seines Amtes bringt er Ordnung ins Chaos des Todes. Seit fast 20 Jahren beschäftigt sich Gromow mit dem Rätsel des Jekaterinburger Zarenmordes, und sein Kinnbart, die Fotos auf seinem Schreibtisch beweisen es, ist über dieser Beschäftigung grau geworden, grauer und spitzer, man könnte sagen: zaristischer. Gromow lacht. Er lacht gerne. Besonders dann, wenn er ernste Sätze sagt. „Falls mein Leben irgendeinen Sinn hat“, sagt Gromow, „dann ist es die Aufklärung dieses Falls.“

Gromows Version ist eine von vielen, die in Jekaterinburg zu hören bekommt, wer nach dem Ende der russischen Monarchie fragt. Es ist eine saubere, eine aufgeräumte Version, die Version eines Naturwissenschaftlers. Sie fängt gewissermaßen von hinten an, wie das in der Pathologie ja meist der Fall ist. 1991 legte man Gromow einen Haufen Knochen auf den Obduktionstisch, die kurz zuvor am Jekaterinburger Stadtrand exhumiert worden waren. Die Anweisung der russischen Generalstaatsanwaltschaft lautete sinngemäß: Finde heraus, wessen Leichen das sind.

Gromow und seine Kollegen begannen zu puzzeln. Sie sortierten den Knochenberg, setzten die Einzelteile zu neun Skeletten zusammen. Sie führten Schädelformstudien und molekulargenetische Analysen durch, verglichen historische Fotos, wälzten zaristische Krankenberichte und Zahnarztdiagnosen, nahmen Blutproben von Nachkommen der Romanow-Dynastie. Am Ende legten sie der Staatsanwaltschaft eine Liste vor.

Skelett 1: Kammerzofe Anna Demidowa

Skelett 2: Leibarzt Jewgeni Botkin

Skelett 3: Prinzessin Olga Romanowa

Skelett 4: Zar Nikolaj II. Romanow

Skelett 5: Prinzessin Anastasia Roma- nowa

Skelett 6: Prinzessin Tatjana Romanowa

Skelett 7: Zarin Alexandra Romanowa

Skelett 8: Leibkoch Iwan Charitonow

Skelett 9: Kammerdiener Aloisi Trupp

Die Staatsanwaltschaft stutzte. Da fehlten zwei. Man hatte den Zaren gefunden, seine Frau und vier Bedienstete, aber nur drei von vier Töchtern und keinen Sohn. Es fehlten Prinzessin Maria, die zweitjüngste Tochter, und Prinz Alexej, der Thronfolger.

Das allerdings war ein rein staatsanwaltschaftliches Problem, kein pathologisches. Für Gromow war der Auftrag abgeschlossen, der Knochenberg abgetragen, das hintere Ende einer Geschichte aufgerollt, deren vorderes nun in anderem Licht erschien. „Durch unsere Untersuchung“, sagt Gromow, „war es endlich möglich, das Ende der Romanows mehr oder weniger lückenlos zu rekonstruieren.“

Der Anfang dieses Endes war die Oktoberrevolution. Nach ihrer Machtergreifung im Jahr 1917 hatten Lenins Bolschewiken beschlossen, den wenige Monate zuvor nach Sibirien verbannten Zaren nach Moskau zu überführen, um ihn vor ein Revolutionsgericht zu stellen. Nikolaj II. und seine Familie gelangten jedoch nur bis in den Ural – der inzwischen ausgebrochene Bürgerkrieg zwischen „Roten“ und „Weißen“, Bolschewiken und Zarentreuen, machte den Weitertransport unmöglich.

Im Ipatjew-Haus, einer leerstehenden Villa im Jekaterinburger Stadtzentrum, hielt man die Romanows 78 Tage lang fest, während weiße Bürgerkriegstruppen von Sibirien aus auf den Ural vorrückten. Im Kreml wuchs die Sorge, dass der Zar dem Gegner in die Hände fallen könnte. Schließlich, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918, führte man die Zarenfamilie und ihre Bediensteten ins Untergeschoss des Ipatjew-Hauses, unter dem Vorwand, sie vor möglichen Gefechten schützen zu wollen. Ein fünfköpfiges Erschießungskommando stellte das Feuer erst ein, als sich im Keller niemand mehr regte.

Am 19. Juli meldete die Moskauer „Iswestija“, der Zar sei „wegen seiner Verbrechen gegen das Volk“ hingerichtet worden. Man habe Nikolaj II. vor ein Gericht stellen wollen, eine weißgardistische Verschwörung habe dies jedoch verhindert. Die Gattin und der Sohn des Zaren, hieß es weiter, seien „an einen sicheren Ort“ gebracht worden. Von den Töchtern kein Wort.

Als acht Tage später weiße Truppen Jekaterinburg einnahmen, suchten Hunderte von Freiwilligen fieberhaft nach den Überresten der Romanows. Sie fanden nichts. Eine weiße Untersuchungskommission kam aufgrund von Zeugenaussagen zu dem Schluss, dass die Leichen jenseits der Stadtgrenze vernichtet worden waren. „Wie wir heute wissen, wurde das auch tatsächlich versucht“, sagt Gromow, dessen Mitarbeiter an den Knochen Spuren von Feuer- und Säureeinwirkung feststellten. „Aber aus unbekannten Gründen gelang es nicht, die Körper spurlos verschwinden zu lassen.“ Stattdessen vergrub man die verstümmelten Leichen in einem stillgelegten Schacht, aus dem 1991 ihre Überreste geborgen wurden.

Für Gromow, den Pathologen, hätte dies das Ende der Geschichte sein können. Doch dann, viele Jahre später, legte man ihm erneut einen Haufen Knochen auf den Obduktionstisch. Die Geschichte ging von vorne los, und ihre Wiederholung fiel weitaus komplizierter aus als der erste Teil. Denn in der Zwischenzeit hatten in Russland noch ein paar andere Geschichten begonnen.

Die der orthodoxen Kirche zum Beispiel. Das war natürlich eine sehr alte Geschichte, aber weil die Bolschewiken sie nach Kräften beendet hatten, musste sie neu angefangen werden. Die Kirchen und Klöster, die von den Kommunisten zerstört worden waren, wurden jetzt neu aufgebaut, und zusätzlich errichtete man ein paar weitere an Stellen, die dafür besonders geeignet schienen. Am Jekaterinburger Stadtrand etwa, wo seit einigen Jahren ein neues Männerkloster entsteht.

Dessen bereits fertiggestellter Teil sieht aus, als sei er einem russischen Märchenbuch entsprungen: Goldene Zwiebelkuppeln schimmern über Birken, in dunklen Holzkirchen leuchten Ikonen, vor denen bärtige Priester im Weihrauchnebel beten. Warum sich diese Stelle besonders gut für ein Kloster eignet, ist nicht ganz leicht zu erklären. Wladimir, ein 19-jähriger Seminarist, tut sich merklich schwer damit. Er weist auf eine Lichtung, in deren Mitte ein hölzerner Rundgang eine grasüberwachsene Mulde einfasst. „Das“, sagt Wladimir, „ist der Schacht, in dem 1918 die Leichen der Zarenfamilie vernichtet wurden.“ Man könnte auch sagen: in dem 1991 ihre Knochen gefunden wurden. Aber das sagt Wladimir nicht. Weil er es nicht glaubt.

Denn obwohl die orthodoxe Kirche die Zarenfamilie im Jahr 2000 heilig gesprochen hat, erkennt sie die exhumierten Knochen nicht als Überbleibsel der Romanows an. Wladimir betet die Begründung herunter, die ihm im Priesterseminar beigebracht wurde: „Die Kirche sieht keinen Anlass, am Bericht der Untersuchungskommission von 1918 zu zweifeln: Die Leichen wurden vernichtet, es ist nichts von ihnen übrig. Die Knochen, die man hier ausgegraben hat, gehören nicht der heiligen Familie.“ Warum die Pathologen zu einem anderen Schluss kommen? „Ich weiß es nicht“, sagt Wladimir. Beteuernd schüttelt er den Kopf, er weiß es wirklich nicht, er kann nur mutmaßen. „Im Priesterseminar glauben viele, dass das Untersuchungsergebnis von Politikern bestellt wurde, die ihre historische Schuld am Zarenmord verschleiern wollen.“ Warum der Kirche diese Frage nicht gleichgültig sei? „Weil sie wichtig ist!“, sagt Wladimir entschieden. „Heilige werden verehrt, Gläubige beten zu ihnen, ihre Reliquien wirken Wunder. Die Kirche kann nicht zulassen, dass in ihrem Namen häretische Heiligtümer verehrt werden.“

Oder häretische Heilige. Denn bis heute tauchen in Russland immer wieder angebliche Zarenkinder auf, die auf wundersame Weise der Erschießung entgangen sein wollen – ein Lokalhistoriker hat im Laufe der Jahrzehnte 28 Olgas, 33 Tatjanas, ebenso viele Anastasias, 53 Marias und 81 Alexejs gezählt.

Orte der Heiligenverehrung, wenn auch keine Reliquien, bietet die Kirche ihren Gläubigen durchaus. Im Stadtzentrum von Jekaterinburg wurde vor sieben Jahren die „Kathedrale auf dem Blute“ errichtet, an der Stelle, an der bis 1977 das Ipatjew-Haus stand. Sie ist eines der größten orthodoxen Gotteshäuser in ganz Russland, und eine Statue vor dem Treppenaufgang zur Oberkirche versinnbildlicht, wessen Blut hier gedacht wird: Der Zar, seine Frau und seine Kinder sind überlebensgroß um ein orthodoxes Steinkreuz gruppiert, ihre erstarrten Gesten wehren unsichtbare Angreifer ab, ihre Gesichter spiegeln ewige Todesangst.

„Sie sind für uns gestorben“, sagt Jewdokia Iwanowna, die jeden Tag hierher kommt, obwohl ihre Beine sie nicht mehr zuverlässig tragen mit ihren 76 Jahren. Manchmal bringt sie der heiligen Familie Blumen mit, manchmal betet sie zu den Zaren-Ikonen im Inneren der Kathedrale, wie es so viele hier tun. „Der Zar wird wiederkommen“, sagt Jewdokia Iwanowna. Sie lächelt ein wissendes Lächeln. „Er wird uns nicht im Stich lassen. Russland ohne Zar ist nicht Russland.“

Alte Geschichten, die neu beginnen. Die Geschichte der russischen Zarenverehrung gehört dazu, genau wie die der orthodoxen Kirche. Und natürlich die Geschichte des russischen Staates, der nach dem Ende der Sowjetunion ebenfalls einen Neuanfang suchte. Boris Jelzin, der 1977 als örtlicher Parteisekretär noch den Befehl gegeben hatte, das Ipatjew-Haus abzureißen, um es nicht zur Pilgerstätte werden zu lassen, bezeichnete diese Entscheidung zu Perestroika-Zeiten plötzlich als „sinnlos“ und drang darauf, die Zarenüberreste zu exhumieren.

Und so kam es, dass jene fünf Särge, die am 17. Juni 1998 aus Jekaterinburg in die ehemalige Zarenhauptstadt Sankt Petersburg überführt wurden, dort zwar ohne kirchlichen Segen, dafür aber mit umso größerem staatlichen Pomp in der Hauskirche der Romanow-Dynastie beigesetzt wurden. Boris Jelzin, inzwischen russischer Präsident, nahm mit trauerschwerer Miene an der Zeremonie teil.

Zwei Grabnischen ließ man frei in Sankt Petersburg. Denn da fehlten ja noch zwei.

Man fand sie fast zehn Jahre später, im Sommer 2007, nur wenige hundert Meter von der Fundstelle des Jahres 1991 entfernt. Warum so spät? Wladimir Gromow, der Pathologe, zuckt mit den Schultern. Es ist eines jener zahlreichen Rätsel rund um den Zarenmord, die zum Glück nicht in seinen Aufgabenbereich fallen. Vielleicht, weil die Fundstücke diesmal kleiner waren, weil die Leichen gründlicher verstümmelt, verbrannt, verätzt worden waren.

Gromow stellte lediglich fest, dass es sich bei den Fragmenten laut DNA-Analyse um Überbleibsel der Zarenkinder Maria und Alexej handelte. Im Frühjahr 2008 schloss die russische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ab. Der Fall war gelöst.

Dann aber geschah etwas Merkwürdiges. Es geschah: nichts.

In einer schäbigen Betonbaracke im Südwesten Jekaterinburgs lagern in einem mannshohen Metallschrank 44 Plastiktüten, markiert mit handnummerierten Papierzetteln. Sie enthalten zertrümmerte, verkohlte, säureentstellte Knochenfragmente, das größte etwa 20 Zentimeter lang, das kleinste gerade noch mit bloßem Auge erkennbar. Seit zwei Jahren gibt es keinen Grund mehr, warum die Knochen hier lagern sollten. Aber es kommt auch niemand, um sie abzuholen. Zwei Zarenkinder warten auf ihre Beerdigung. Die Gräber sind bereit. Die Menschen beten zu ihnen. Es findet sich bloß kein Totengräber.

Zögert der Staat, weil er die Kirche nicht brüskieren will? Gromow kann nur spekulieren. „Ich glaube, es ist wie immer in Russland“, sagt er. „Niemand rührt sich, solange kein Machtwort von ganz oben kommt.“ Er seufzt. „Wir haben die Zaren gestürzt, wir haben die Kommunisten gestürzt, nichts hat sich geändert. Im Herzen bleiben wir Untertanen.“ Es sind die ersten Sätze, bei denen der Pathologe nicht lacht.

Gromow sitzt auf den Knochen. Er wird sie nicht los, niemand braucht sie. Die Kirche nicht, weil sie keine Wunder wirken. Der Staat nicht, weil er genug Knochen beerdigt hat. Die Menschen nicht, weil sie einen Zaren aus Fleisch und Blut wollen, keine Knochen. Und andere Menschen nicht, weil ihnen Angst macht, wie tief ihrem Land der Herrscherkult in den Knochen steckt.

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