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Ein halbes Jahr nach der Flut: Jammern ist zwecklos

Nach der Flut im vergangenen Sommer ist im bayerischen Fischerdorf alles anders. Mehr als zwei Wochen lang war der kleine Ort an der Donau überflutet, von Normalität kann noch immer keine Rede sein. Mitten im Wiederaufbau üben sich die Einwohner angestrengt in Zuversicht.

Als das Wasser dann 2,70 Meter hoch im Gastraum steht, bis knapp unter die holzvertäfelte Decke, als kein Mensch mehr da ist, als aus Fischerdorf eine einzige riesige Seenlandschaft geworden ist, da steigt Georg Scheßl ins Schlauchboot. Allein fährt er an diesem heißen Tag im Juni 2013 raus zu seinem im Donau- und Isarwasser untergegangenen Georgenhof. Auf Höhe des ersten Stocks kann er anlegen, er gelangt in ein Gästezimmer. Ein Kasten Bier ist noch da. Scheßl setzt sich auf den Balkon, öffnet eine Flasche Bier, zündet eine Zigarette an und blickt aufs Wasser. „Da dachte ich die ganze Zeit nur ein einziges Wort“, erzählt der 52-Jährige. „Höllenstille.“

Normalerweise rauscht es im bayerischen Fischerdorf immer leise. Das Geräusch kommt vom nahen Autobahnkreuz Deggendorf, wo sich die Fahrbahnen teilen Richtung Regensburg und Passau. Normalerweise tuckern auch Traktoren auf den Feldern. Und im Georgenhof mit Gaststätte und Pensionsbetrieb ist es auch nie richtig ruhig, das Geschirr klappert, Türen werden auf- und zugesperrt, Duschen und Spülmaschinen laufen. Doch nun ist es still. Höllenstill. Und es stinkt. „Das Wasser“, sagt Georg Scheßl, „war eine Kloake mit Heizöl und Fischkadavern.“

Seit der Flut im vergangenen Sommer ist in Fischerdorf, einem 700-Einwohner-Teilort von Deggendorf, alles anders. Das gewaltige Hochwasser traf 2013 zahlreiche Orte in ganz Deutschland, in vielen zogen sich die Fluten relativ zügig auch wieder zurück. In den Innenstädten des nahen Passau oder Regensburg etwa sieht man kaum mehr Spuren. Fischerdorf aber, wo das Wasser mehr als zwei Wochen lang stand, ist noch immer weit entfernt von Normalität.

Ständiger Umgang mit Zerstörung

In dem Dörfchen, wo jeder jeden kennt, versuchen sie sich zum neuen Jahr in Zuversicht – und im Wiederaufbau. Einfach ist das nicht, dieser ständige Umgang mit der Zerstörung, das Nachdenken über die eigenen kaputten Häuschen, über Besitz, der verloren ging und das Wenige, was manchen blieb.

Andrea Pfeffer steht in den letzten Tagen des alten Jahres in der neuen Küche ihres damals beinahe untergegangenen Hauses in der Isarstraße und macht Kaffee. Die Maschine ist neu, besser vielleicht, in jedem Fall anders als die vorher. Sie kocht nicht einfach nur Filterkaffee. An ihr kann man wählen zwischen Espresso, Cappuccino und Latte Macchiato. Die 39-Jährige serviert den Kaffee und setzt sich auf das neue schwarze Sofa. „Die ganzen neuen Sachen sind mir so fremd“, sagt sie. „Es ist, als ob das nicht mir gehört.“

Pfeffer ist Mutter von zwei Kindern, im Pfarramt arbeitet sie als Sekretärin. Sie lächelt ein bisschen traurig. Erst seit ein paar Tagen sind die Pfeffers wieder vom ersten Stock des Hauses in das Erdgeschoss heruntergezogen, bis dahin wurde es saniert. Zu Weihnachten war die ganze große Familie nicht wie gewohnt bei ihren Eltern in der Rosenstraße versammelt. Denn deren Haus muss abgerissen werden, die Eltern wohnen seit der Flut in einer kleinen Wohnung in Deggendorf, auf der anderen Seite der Donau. Stattdessen kamen alle zu Andrea und ihrem Mann Siegfried. „Mir hat davor gegraut“, sagt die Frau. Denn ihr war klar, wie die Stimmung sein würde. Andrea Pfeffer sagt: „Es war sentimental.“

Trauer, aber auch Erleichterung

Am Dienstag, dem 4. Juni 2013, geht Siegfried Pfeffer morgens um vier Uhr aus dem Haus. Katastrophenalarm, Pfeffer ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Er schuftet 20 Stunden am Stück, rettet Menschen und ihren Besitz – während sein eigenes Haus absäuft. Andrea Pfeffer räumt in dieser Zeit so viele persönliche Dinge wie möglich nach oben in den ersten Stock. Alles, was wichtig ist, oder ihr wichtig zu sein scheint. Ausweise, Zeugnisse, Dokumente, aber auch die Fotoalben. Doch vieles, was sich nicht so leicht umsortieren oder finden lässt, fällt dem Wasser zum Opfer: die Schlafzimmereinrichtung, der Fernseher, der Hochzeitsfilm der Pfeffers von 1997.

„Sind wir mal ehrlich“, sagt Andrea Pfeffer, „wann haben wir den Film das letzte Mal angeschaut?“ Sie ist traurig, aber auch ein bisschen erleichtert. „Man merkt, vieles von dem Gelump brauchen wir gar nicht.“ Oder anders herum: Man merkt, was wirklich wichtig ist. Die Familie, das eigene Leben, nicht das Sofa oder die Kommode. Als Fischerdorf schließlich evakuiert wird, hat Andrea Pfeffer mit ihrer Trauer abgeschlossen. Es muss ja weitergehen.

Auf den Straßen im Ort liegt noch immer Schlamm, der bei dem kalten, nebligen Donauwetter an den Schuhsohlen haften bleibt. Andrea Pfeffer weiß zu fast jedem Haus die Geschichte. „Die müssen abreißen“, sagt sie und deutet auf ein unbewohntes Haus, „dort wird gebaut.“ Es gibt eine Moschee, sie steht noch, aber auch sie muss abgerissen werden. Zwanzig hohe Baukräne stehen gerade in Fischerdorf, der Wiederaufbau ist auch ein Konjunkturprogramm für das Handwerk.

Die Nähe der Donau macht den Zugezogenen Angst

Andrea Pfeffers Freundin Sonja Vogl wohnte noch im vergangenen Sommer nur zwei Häuser von den Pfeffers entfernt. Ihr Haus aber konnte nicht gerettet werden. Es wurde abgerissen. „Das Öl aus dem Heizungskeller hat die Betondecke zerstört“, erklärt Sonja Vogl. Jetzt steht sie vor dem roten Ziegelsteinrohbau des neuen Heimes, das Handy klingelt pausenlos. „Es bleibt bei den Fliesen“, sagt sie ins Telefon. „Ja, wenn verputzt ist, geben wir Bescheid.“ In Fischerdorf ist inzwischen beinahe jeder zum Bau- und Sanierungsexperten geworden.

Bitter erinnert sich Sonja Vogl, wie sie damals die Couch auf zehn Zentimeter hohe Holzpflöcke gestellt haben in der Hoffnung, dass das reicht, um sie zu retten. Ihre Augen werden feucht. „Ich vermisse unser altes Haus“, sagt sie. 17 Jahre lang haben sie darin gelebt. Seit der Flut aber wohnen die Vogls mit ihren zwei Kindern in einem Studentenwohnheim. Dort werden sie bleiben müssen bis zum kommenden Juni, wenn das neue Haus endlich fertig ist. „Wir schränken uns ein“, sagt Sonja Vogl. Es ist eng im Wohnheim.

Der Weg zur finanziellen Entschädigung ist für die Flutopfer kompliziert, sie scheint aber weitgehend gesichert. Anders als etwa in Passau konnten die Fischerdorfer ihre Häuser versichern. Wo dies nicht der Fall war, springt der Freistaat ein und übernimmt 80 Prozent der Kosten für Sanierung oder Wiederaufbau. Für die fehlenden 20 Prozent gibt es Landesdarlehen. Bei weiteren Defiziten oder in Notlagen soll mit Spendengeldern geholfen werden, 15 Millionen Euro liegen derzeit bei der „Spendenkommission Deggendorf“. Was der Hausrat einer Familie wert ist, steht genau in den Paragrafen. Für den sogenannten Haushaltsvorstand, den Hauptverdiener, gibt es 13 000 Euro, für den Lebenspartner 8000, pro Kind erhält man 3500 Euro und 1500 für den Keller.

Jedes Haus - ein Schicksal

Jedes Haus ist mit einem Schicksal verbunden. Das Wasser hat, selbst dann noch, als es längst abgeflossen war, Paare auseinandergebracht: Die Frau plante energisch den Neubau, der Mann wurde immer lethargischer, konnte es nicht verkraften, wollte am liebsten weiter in der Ruine wohnen. Alte Menschen werden die Fertigstellung ihres neuen Hauses womöglich gar nicht mehr erleben. Viele, die zur Miete in Fischerdorf gewohnt haben, sind ganz weg. „Irgendwohin, in den Bayerischen Wald, wo es kein Hochwasser geben kann“, sagt Andrea Pfeffer.

Manche Zugezogene kommen mit der Nähe der Donau nicht mehr gut zurecht nach der Flut. Anders als die Ur-Fischerdorfer, die schon als Kinder alle an den Ufern des Flusses spielten. Pfeffer erzählt davon. Sie erklärt viel von alten und neuen Dämmen und dem verhängnisvollen Einfluss der Isar, die kurz hinter Fischerdorf in die Donau mündet. „Ein solches Wasser kommt nicht mehr wieder“, sagt sie und das klingt nur halb zuversichtlich, halb nach Wunschdenken.

„Für meine Kinder war das am Anfang ein riesiger Abenteuerspielplatz“, erinnert sich der Gastwirt Georg Scheßl an die ersten Tage, an denen die Fischerdorfer ihren Ort wieder betreten durften. Vier Buben hat er. Die beiden Jüngsten haben in dem ganzen Gerümpel auf den Straßen gewühlt, haben sich ihre eigene Welt daraus gebaut. Doch jetzt merkt Scheßl, wie sie stiller werden, wie das noch immer erlebbare Ausmaß der Flutkatastrophe die Kinder belastet. „Die fressen das in sich rein.“ In der Schule werden ihre Noten schlechter. „Da wird wohl eine Ehrenrunde fällig sein.“

„Ich gehe oft in die Knie“

Als es dunkel wird, bohren und hämmern die Handwerker in der großen Hotelgaststätte von Georg Scheßl noch immer weiter. Sein gesamter Schaden beläuft sich auf drei Millionen Euro, sagt er. Die Gaststätte wird saniert, sein Wohnhaus muss abgerissen werden. Kommt es schlecht, bleibt er auf mehreren hunderttausend Euro Schulden sitzen. Vor 18 Jahren hatte er alles neu gemacht im Georgenhof, allein die Restaurantküche hatte 150 000 Euro gekostet.

Während Andrea Pfeffer viel lächelt, scherzt, immer wieder die vielen freiwilligen Helfer lobt, die in Fischerdorf angepackt haben, sagt Georg Scheßl: „Ich bin zufrieden, das Jammern bringt mich nicht weiter.“ Doch sei er empfindsamer geworden. Er weint ein bisschen, wenn er über die tausenden Opfer der Flutkatastrophe auf den Philippinen redet. Weil ihm deren Unglück so erschreckend nachvollziehbar ist. Daran gemessen, erscheinen ihm die Fischerdorfer Geschichten wie Glück.

Etwa jene von der Greisin. Die schickte die Helfer mit ihrem Boot wieder fort. Sie wollte nicht gerettet werden, ihr Haus nicht verlassen. Eine Stunde später schrie sie dann nach Hilfe. Ein Hubschrauber kam und holte sie.

Mit seiner Frau lebt Scheßl nun in einem seiner Pensionszimmer, auch jeder Sohn hat eines bezogen. Erst seit ein paar Tagen hat die Familie wieder warmes Wasser. Im vergangenen halben Jahr hat Scheßl am Morgen mit dem Wasserkocher Wasser erhitzt, es in Schüsseln gegeben und kaltes hinzugeschüttet. Jeder Sohn bekam eine Schüssel vor die Tür gestellt, für die Wäsche. Doch Georg Scheßl, der energische Wirt und Vater, sagt auch: „Ich gehe oft in die Knie.“ An Abriss und Neubau seines Privathauses mag er noch gar nicht denken. Er kümmert sich erst mal um Pension und Gaststätte, im Juni will er wieder aufmachen.

Diese Reportage ist auf der Dritten Seite erschienen.

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