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Mitwisserin. Erst 15 Jahre nach dem Mord an der Schwester brach Nourig Apfeld ihr Schweigen.

© Sebastian Hänel

Ein Leben in Angst: Zeugin des Ehrenmords an der Schwester

Der Vater war kreidebleich, er hatte Waffa erwürgt. "Wenn du nicht schweigst, passiert dir dasselbe", drohte die Familie. Und sie hielt sich daran. Bis Nourig Apfeld nicht mehr konnte.

Der Vater sagt, „steh auf“, und weiter, „ich brauche deine Hilfe“. Nourig Apfeld ist die älteste Tochter, er bittet sie oft, ihm zu helfen. Doch jetzt ist es halb sechs Uhr morgens, und der Vater ist kreidebleich. Sie bekommt Angst. Langsam folgt sie ihm ins Wohnzimmer. Dort liegt auf dem braunen Sofa ihre Schwester Waffa. Sie ist tot. Die Zunge quillt ihr aus dem Mund, um den Hals ist ein Seil gezurrt, die Enden hält einer ihrer Cousins in der Hand. Niemand braucht sie hier. Der Cousin sagt mit leiser Stimme, „wenn du nicht schweigst, wird dir dasselbe passieren“. Dann schickt der Vater die damals 21-Jährige ins Schlafzimmer. Sie sieht noch, wie die Männer den Körper ihrer drei Jahre jüngeren Schwester in das Auto des Vaters packen, losfahren.

Am nächsten Morgen geht Nourig Apfeld in die Schule, als wäre nichts passiert. An das, was sie in der Nacht zuvor gesehen hat, versucht sie nicht mehr zu denken. Doch jedes Detail hat sich ihr ins Gedächtnis gegraben.

Der Mord an der Syrerin Waffa ereignete sich am 29. August 1993 in einer Mietwohnung in Bonn. Sie wurde getötet, weil der Vater und die Cousins fanden, sie hätte Schande über die Familie gebracht. Lange blieb der Fall ungeklärt. Erst 15 Jahre später kamen die Täter vor Gericht, die Leiche von Waffa wurde nie gefunden.

Nach Angaben der Vereinten Nationen werden jährlich 5000 Frauen getötet, weil sie gegen eine Familienregel verstoßen haben, Täter sind Vater, Bruder, Onkel, Cousin, Ehemann oder Exmann. Ehrenmorde sind ein Phänomen islamischer Gesellschaften, doch auch in Deutschland finden sie statt. Offizielle Zahlen gibt es nicht, allein vergangenes Jahr wurde in den Medien über 25 Frauen berichtet, die getötet wurden, um die vermeintliche Familienehre zu retten. Besonderes Aufsehen erregte der Mord an der Türkin Hatun Sürücü. Sie wurde 2005 an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof von ihrem Bruder erschossen, nachdem sie ihren Mann verlassen hatte, um ein eigenständiges Leben zu führen. Die meisten Ehrenmorde werden niemals bekannt, weil sie als Unfall oder Selbstmord getarnt werden. Manchmal wird eine Frau einfach als vermisst gemeldet, und der Rest der Familie bleibt stumm.

Auch Nourig Apfeld schwieg viele Jahre. Der Trick des Vaters hatte funktioniert: Er hatte sie zur Mitwisserin gemacht, sie fühlte sich mitschuldig, schon deshalb sagte sie nichts.

Doch jetzt will sie reden. Sie hat beschlossen, ihre Geschichte zu veröffentlichen, das Buch mit dem Titel „Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester“ wird sie am kommenden Donnerstag in Berlin vorstellen, mit Günter Wallraff, der das Vorwort geschrieben hat. „Heute habe ich Frieden geschlossen mit mir und meiner Geschichte“, sagt sie. Sie sitzt in einem Café, wo, soll nicht genannt sein, ganz aufrecht sitzt sie da, redet mit fester Stimme. Sie sagt, sie habe keine Angst mehr vor der Rache ihres Klans.

Nourig Apfeld hatte fast ihr ganzes Leben lang Angst. Sie war sieben Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und der dreijährigen Schwester Waffa aus Syrien nach Bonn kam, wo der Vater schon seit einem Jahr lebte. Weil er als kurdischer Syrer das Regime der sozialistischen Baath-Partei öffentlich kritisiert hatte, musste er fliehen. In Deutschland gewährte man ihm Asyl, er holte seine Familie nach. Die Eltern lernten kaum Deutsch, mit jedem weiteren Jahr in Bonn hielten sie stärker an den syrischen Traditionen fest. Sie fürchteten, ihre Kultur zu verlieren in Deutschland, wo Frauen alleine lebten und wechselnde Freunde hatten. Mit Schlägen und Drohungen versuchten die Eltern, die Töchter zu einem muslimischen Leben zu zwingen. „Wenn du nicht gehorchst, bring ich dich um“, sagten beide oft.

Damals träumte Nourig Apfeld davon, frei zu sein, wie eine Deutsche zu leben. In der Wirklichkeit ordnete sie sich unter. Ihre Schwester Waffa aber war nicht bereit dazu. Sie wollte in Freiheit leben.

Weil sie die Gewalt zu Hause nicht länger ertrug, ging sie mit 13 Jahren zum Jugendamt und sagte, sie wolle in ein Kinderheim. Der Vater musste daraufhin einer Mitarbeiterin erklären, was zu Hause los war. Nourig Apfeld begleitete ihn, war sein Sprachrohr. „Wir schlagen unsere Kinder nicht“, übersetzte sie, obwohl sie wusste, dass er log. Die Mitarbeiterin des Jugendamts glaubte dem Vater, Waffa musste in der Familie bleiben.

Das Zusammenleben wurde immer schwieriger. Waffa blieb häufig über Nacht weg, stritt sich fast täglich mit den Eltern und mit den anderen Geschwistern, von denen die jüngeren in Deutschland geboren waren. Zwei Jahre später beschloss der Vater, seine Tochter in die Türkei zu Verwandten zu bringen. Zu Waffa sagte er, er wolle zwei Wochen lang mit ihr in die Türkei fahren. Er wolle Urlaub machen, über alles reden, was passiert war.

„Ich war unfähig, meine Schwester zu warnen“, sagt Nourig Apfeld heute, sie will sich immer noch rechtfertigen. „Mit ihren Drohungen und Schlägen hatten sie mich damals im Griff.“

Zwei Jahre später stand ihre Schwester Waffa plötzlich vor der Tür der elterlichen Bonner Wohnung, hochschwanger. Sie war gekommen, um das Kind zur Welt zu bringen. Doch mit den Eltern begannen die Probleme von vorne. Als die Mutter kurz darauf an einem Gehirntumor starb, wurde es für kurze Zeit besser. Doch schon bald nach der Geburt ihres Sohnes lief Waffa davon, ging in ein Frauenhaus, gab den Sohn in ein Kinderheim, begann mit verschiedenen Männern auszugehen, Drogen zu nehmen. Ein Jahr später war sie tot. Damit war diese Geschichte begraben in irgendeinem Loch, das die Männer vorher ausgehoben hatten.

Und für Nourig begann etwas Neues. Kurz nach dem Mord an ihrer Schwester lernte sie Felix Apfeld kennen, einen jungen Deutschen. Ihm erzählte sie von dem strengen Elternhaus. Sie sagte, ihr Vater würde niemals akzeptieren, dass sie mit einem Deutschen zusammen sei. Von dem Mord erzählte sie auch Felix nichts. Er bot ihr an, zu ihm zu ziehen. Wenige Tage später packte sie ihre Sachen. Der Vater versuchte nur kurz, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Schließlich ließ er seine Tochter ziehen, bat nur, dass sie sich mit Felix verlobte.

„Der Tod meiner Mutter und der Mord an meiner Schwester hatten ihn gebrochen“, sagt Nourig Apfeld. „Er war nicht zufrieden mit meinem Weg, aber er hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu stellen.“

Nachdem sie ihre Familie verlassen hatte, baute sie sich mit Felix ein deutsches Leben auf. Sie heiratete, wurde Nourig Apfeld, studierte Medizin, ging ins Theater und in die Oper, arbeitete am Wochenende als Altenpflegerin und am Abend in einem Theater an der Garderobe. Für Freunde oder Bekannte aus der arabischen Welt war kein Platz in diesem Leben, ihre Muttersprachen Arabisch und Kurdisch wollte sie nicht mehr sprechen, zu den Ihren brach sie den Kontakt fast vollständig ab. An ihr früheres Leben erinnerte sie sich nur, wenn sie, meist zufällig, einen Verwandten traf. Danach ging es ihr tagelang schlecht.

Der Mord lag schon etwa acht Jahre zurück, da entglitt Nourig Apfeld allmählich das deutsche Leben. Sie wurde depressiv, ängstlich, ging nicht mehr zu den Prüfungen im Studium, ihre Ehe geriet in eine Krise. Zuerst wusste sie nicht wieso. Sie begann eine Psychotherapie, und plötzlich war er wieder da, in ihrem Bewusstsein, der 29. August 1993.

„Wenn jemand einen Ehrenmord miterlebt, ist das eine traumatische Erfahrung“, sagt Sybille Schreiber von der Beratungsstelle Terre des Femmes, bei der Frauen Hilfe finden, die Opfer eines Gewaltverbrechens werden könnten. „Wer das Trauma verarbeitet hat, will meist nicht darüber sprechen. Wenige Frauen wollen an die Öffentlichkeit gehen, weil sie das Gefühl haben, beschützt zu sein, wenn viele Menschen von ihrem Schicksal wissen.“ Schreiber sagt auch, dass es Frauen gibt, die ein solches Erlebnis ihr Leben lang nicht verarbeiteten.

Nourig Apfeld wollte erst weiter so tun, als hätte der Mord mit ihrem Leben nichts zu schaffen. Dann traf sie zufällig ihren Vater in einem Park in Bonn. Sie wollte sich gerade wieder von ihm verabschieden, da erzählte er, er wolle die jüngste Tochter Nadia nach Syrien schicken, denn sie würde bald Schande über die Familie bringen. Entsetzen packte sie, die Geschichte von Waffa könnte sich wiederholen.

Sie rief anonym bei der Polizei an und erkundigte sich, was passieren würde, wenn man einen Ehrenmord anzeige. Dann verließ sie der Mut wieder. Doch die Beamten der Mordkommission fanden heraus, wer sie war, kontaktierten sie, drängten sie zu einer Aussage. Im Gegenzug boten sie ihr die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm an. Personenschützer würden sie begleiten, wohin sie ging, sie sollte eine neue Identität bekommen. Doch Nourig Apfeld weigerte sich.

„Ich wollte nicht, dass der Ehrenmord mein ganzes Leben verändert“, sagt sie heute. Sie ist eine kleine, burschikose Frau mit großen, dunklen Augen. Wenn sie über Damals spricht, ist sie immer noch wütend. Sie wollte nicht das Leben verlieren, das sie sich in so vielen Jahren mühsam aufgebaut hatte, nicht durch eine so scheußliche, hinterhältige Tat. Sie wollte, dass alles wieder so war wie früher, als sie mit Felix zusammenlebte.

Doch auch ohne die Aussage war damals schon nichts mehr wie früher. Sie fand nicht in ihr altes Leben zurück, gab ihre Wohnung auf, zog bei Freunden ein, brach das Studium ab.

Schließlich schaffte es die Polizei, sie zur Aussage zu überreden. Nourig Apfeld war zermürbt vom Nomadenleben, von der Angst, von der Ungewissheit. Im Januar 2008 erzählte sie vor Gericht, was sie an jenem verhängnisvollen Morgen vor 15 Jahren gesehen hatte. Im März fiel das Urteil. Der Vater nahm die ganze Schuld auf sich und wurde wegen Totschlags zu acht Jahren Haft verurteilt. Den Cousins konnte keine Mitschuld nachgewiesen werden, sie sind heute auf freiem Fuß.

Wenn sie jetzt über den Mord und über ihr Leben danach spricht, sagt sie auch: „Ich will zeigen, wie man mit dieser Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen umgehen kann, ohne sich selbst zu zerstören.“ Nach dem Prozess lebte Nourig Apfeld weiter in Angst, ging nicht aus dem Haus, wollte niemanden sehen. Erst, als sie alles aufschrieb, wurde es besser.

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