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Panorama: Ein Schluchzen in der Stille

Das Emsland gedenkt in Gottesdiensten der Opfer – am Unglücksort ist es derweil sehr ruhig geworden

Licht durchflutet die kleine Kirche. Die Totenglocken läuten. Später sagt der Pastor: „Bedenkt, den eigenen Tod stirbt man. Aber mit dem Tod der anderen muss man leben.“ Es ist ein Zitat der jüdischen Schriftstellerin Mascha Kaléko. Viele, die trauern, sind am Sonntagmorgen hier, in der evangelischen Kirche, oder in deren katholischem Pendant. Draußen sieht alles aus wie ein typischer Sonntag in der Provinz: geschlossene Geschäfte mit bunten Stoffmarkisen, rote Klinkerhäuschen, vereinzelt Spaziergänger, Vorgärten, in denen die Rechenspuren in die Erde gedrückt sind und Unkraut keine Chance hat. Fast jeder hier kennt jemanden, der betroffen ist: der Gärtner, der von Mitarbeitern der Betreibergesellschaft weiß, die im Zug saßen. Die Kellnerin, deren Schwager als Feuerwehrmann als einer der Ersten an der Rettungsstelle war, all die Entstellten gesehen hat. Der Taxifahrer, dessen Feuerwehr-Freund von einer Übung ausging und sich später zwischen Trümmern wiederfand. Der Bauer, der einen Knall hörte, „als ob ein Flugzeug abgestürzt sei“. Der Wirt, der im Lebensmittel-Lagerhaus Kartoffeln kaufen wollte – und Menschen in Schutzanzügen vorfand. Seine Kartoffeln bekam er vom Lkw. Das Kühlhaus bewahrt jetzt die toten Körper auf.

Die Menschen haben sich in die Kirchen zurückgezogen. Auch in normalen Zeiten sind hier viele gläubig. Dreimal am Tag läuten die Glocken zum Gebet. Am Samstagabend aber gab es in der dreischiffigen katholischen Kirche keine Sitzplätze mehr, so voll war sie. Sonntagmorgen das Gleiche. Ebenso sieht es um zehn Uhr in der evangelischen Kirche aus. „Ich trage Bilder in mir, die ich löschen möchte, aber nicht kann“, sagte Pastor Rainer Jenke, „ich trage Gefühle in mir, die ich niemandem zumuten kann. Aber ich habe einen Gott, dem ich das mitteilen kann. Damit ich nicht ins Bodenlose falle.“ Er habe diese Worte zu den Rettern gesagt, am Samstag, bei einer Andacht, die er im kleinen Kreis nur für die Retter gehalten hatte. „Und in den Augen vieler Feuerwehrmänner glaubte ich zu erkennen, dass es ihnen ähnlich geht – wenn nicht schlimmer“, sagte er. Die ersten Helfer waren Feuerwehrleute und Ärzte aus Lathen. Eine Frau hebt die Brille, wischt sich die Augen. Schluchzen und Stille mischen sich zwischen Gebet und Gesänge. „Am Freitag wurde in Lathen die Zeit angehalten“, sagt der Pastor. „Und eine Leere und Stille breitete sich über uns und strahlte über ganz Deutschland.“ Seine Stimme bricht kurz weg. Eine Trauer liegt über diesem hellen Raum, ein Leid drückt auf diese Menschen, dass man es fast körperlich zu spüren meint: Schlucken geht nicht mehr, der Bauch zieht sich zusammen. Viele Menschen haben Tränen in den Augen. Nach dem Gottesdienst wartet ein Mädchen auf den Pastor und seine Frau. Sie erzählt vom Zug. Und von einer Tante.

An der Unglücksstelle liegen die Trümmer unverändert. Niemand der Verantwortlichen ist da: keiner der Betreibergesellschaft, keine Spezialisten, keine Polizeisprecher. „Ich will nicht sagen, dass wir heute nichts tun“, sagt Alexander Retemeyer von der Staatsanwaltschaft Osnabrück. Die Polizei aus Lingen hört heute die Tonbandaufnahmen der Funksprüche ab, auf acht Bändern werden die Gespräche zwischen Transrapidbesatzung, Wartungswagen und Leitstelle aufgezeichnet.

Lathen ist ein 6000-Seelen-Dorf, ein solches, wo an den Türen selbst gebastelte Tonschilder hängen. So wie beim Bürgermeister des Gemeindeverbunds, KarlHeinz Weber. Sprachlosigkeit, Stille, das sind die Worte, mit denen er die Stimmung in seinem Ort beschreibt. Er wird heute die ökumenische Messe am Mittwoch, die für die Opfer gehalten wird, planen, „die ersten Einladungen gehen heute raus“. Jetzt sei der erste Tote in seine Heimatgemeinde überführt worden, alle Totenscheine seien von der Amtsärztin ausgestellt. Dann steht der Bürgermeister von seinem Samtsessel auf und zieht los zum Rathaus, wo zwei verbliebene Fernsehteams auf ihn warten. Ein Mann, allein in der menschenleeren Dorfmitte. Kein Vergleich zu dem Aufgebot am Samstag, als zig Fernsehteams und etliche Helfer vor Ort waren. Sogar drei japanische Fernsehteams und zwei japanische Zeitungen waren angereist. Der Unfall sei ein großes Thema in Japan, sagte der Korrespondent Tomohiko Noto der Zeitung „The Asahi Shimbum“. Japan baut auch ein Transrapid-System.

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