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Panorama: Ein zweites Leben

Die Hamburgerin Ursula Nölle will ihren 80. Geburtstag im Oktober in Kabul feiern – dort wird die Gründerin von „Afghanistan Schulen e. V.“ schon jetzt von Tausenden Schülern erwartet

Mit 58 Jahren begann Ursula Nölles zweites Leben, ihre „Emanzipation“, wie sie heute sagt. 34 Jahre war sie glücklich verheiratet, mit ihrem Mann wohnte sie im ruhigen Osteinbeck bei Hamburg. Die fünf Kinder waren bereits aus dem Haus, sie gab Kindern Turnunterricht.

Dann kam der Tag, an dem Tochter Christine sie fragte, ob sie mit ihr und der zweiten Tochter Karin für drei Wochen nach Pakistan reisen wolle. Christine studierte an der Universität Berkeley Orientalistik und bekam die Chance, für ein Jahr nach Pakistan zu gehen. Es war der Vater, der einen Schreck bekam: Ursula Nölle war noch nie ohne ihn verreist. Das ist 21 Jahre her, viel ist seitdem passiert.

Die Reise nach Pakistan führte die drei in eine Krisenregion. Es war das Jahr 1983, und im Nachbarland Afghanistan tobte ein Krieg. 1979 war die sowjetische Armee in Afghanistan einmarschiert, um den Widerstand der Mujahedin gegen das kommunistische Regime unter Staatspräsident Taraki zu brechen. Millionen Afghanen flüchteten nach Pakistan. Ursula Nölle wohnte mit ihren Töchtern in einem Hotel nahe der Flüchtlingslager, unmittelbar an der afghanischen Grenze: „Die Rezeption war voll mit Kalaschnikows.“ Ursula Nölle fühlte sich nicht mehr als Touristin, sie wagte sich in die Flüchtlingslager, in denen bis zu 700 000 Menschen zusammengepfercht waren. Sie wollte irgendwie helfen. Mit erspartem Vermögen rettete sie noch vor ihrer Abreise die Finanzierung einer Mädchenschule außerhalb der Lager, die vor dem Aus stand. Aber sie wollte auch den Kindern in den Lagern helfen.

Zu Hause in Hamburg gründete sie den Verein „Afghanistan Schulen e.V.“. Seitdem reist sie jedes Jahr mindestens einmal in die Krisenregion. Auch ihr Mann war schon oft mit. In Pakistan baute sie mit den Flüchtlingen Lehmhütten in den Lagern, in denen die Schüler Unterricht erhielten: „Die Kinder waren sehr wissbegierig, der Unterricht konnte ihnen Sinn vermitteln im schrecklichen Lageralltag.“ Die finanzielle Unterstützung bot das Entwicklungsministerium, mit der Zeit halfen andere Organisationen und private Spenden. „20 000 Mark reichten für eine Lehmhütte mit vier Klassenräumen“, erzählt sie.

Seit 1988 ist der Verein direkt in Afghanistan tätig, ein Jahr, bevor die sowjetische Armee endgültig abzog. Die Mujahedin hatten eine Schule zerbombt und fragten den Verein, ob sie beim Wiederaufbau helfen könnten. Viele Menschen wollten aus den Flüchtlingslagern in ihre afghanische Heimat zurückkehren. Vor allem im Nordwesten an der Grenze zu Turkmenistan baute der Verein immer mehr Schulen. Niemand ahnte, dass nach dem Rückzug der Sowjets ein Bürgerkrieg ausbrechen würde, an deren Ende das Taliban-Regime die Macht gewann. Das Engagement des Vereins überdauerte auch das. Versteckt in Hinterzimmern unterrichteten die alten Lehrerinnen und Lehrer Mädchen und Jungen. Einer, der damals mithalf, ist Rüdiger König. Er arbeitete Ende der 90er Jahre in der Botschaft in Pakistan. König erinnert sich an die Zusammenarbeit mit Ursula Nölle: „Eine beeindruckende Frau: Sie wusste immer, was sie wollte.“

Wenn am 9. Oktober die ersten freien Präsidentschaftswahlen in Afghanistan stattfinden, wird Ursula Nölle wie fast jedes Jahr um diese Zeit in Afghanistan sein. Am 17. Oktober feiert sie dort ihren 80. Geburtstag. Auch wenn ihr wegen der instabilen Lage nicht danach ist – um eine Feier wird sich Ursula Nölle wohl kaum drücken können. Dafür kennen sie wohl auch zu viele Menschen: 16 626 Jungen und 9013 Mädchen besuchen heute über 30 vom Verein unterstützte Schulen. Und letztes Jahr machten die ersten Mädchen ihr Abitur.

Stefan Tillmann

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