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Panorama: Eine Epidemie kommt zurück

420 Kinder sind an Rhein und Ruhr plötzlich an Masern erkrankt – Experten eilen jetzt dorthin, um nach den Ursachen zu forschen

An Rhein und Ruhr kann man inzwischen fast von einer Epidemie sprechen: 420 Kinder und Jugendliche sind dort in den letzten Wochen an Masern erkrankt. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2004 wurden dem Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) aus Deutschland nur 121 Fälle gemeldet, und zu Beginn des Jahres 2005 erregte schon die Erkrankung von 62 Kindern im oberbayerischen Landkreis WeilheimSchongau Aufsehen. Sie alle hatten dieselbe Montessori-Schule besucht und waren nicht gegen die Kinderkrankheit geimpft.

In Berlin gab es in den ersten drei Monaten dieses Jahres fünf Fälle von Masern. Das liegt leicht unter dem deutschen Durchschnitt.

Die Ständige Impfkommission, ein 16-köpfiges Expertengremium, empfiehlt seit Jahren für alle Kleinkinder eine zweimalige Impfung, die gleich gegen drei klassische Kinderkrankheiten wirkt: Masern, Mumps und Röteln. Neuerdings sind auch die Windpocken dazugekommen. Immer wieder fragen sich aber kritische Eltern, ob es denn wirklich nötig sei, die Kleinen vor diesen altbekannten Kindheitsbegleitern zu schützen. Denn meist geht ja alles glimpflich ab. Und viele Erwachsene erinnern sich sogar ganz gern an gemütliche Tage, die sie rot gepunktet und etwas fiebrig, aber von ihren Müttern umsorgt und mit den Geschwistern vereint zu Hause verbringen durften.

Doch es gibt eine Kehrseite der Kinderkrankheiten. Ein bis zwei von 10 000 Kindern, die die Masern bekommen, sterben daran. Denn die Infektionskrankheit führt zu einer etwa sechswöchigen Immunschwäche, die bakterielle Zweitinfektionen, am häufigsten Lungenentzündungen, Mittelohrentzündungen und Durchfall begünstigt. Eine sehr ernsthafte Komplikation ist die Masern-Gehirnhautentzündung. Eines von 1000 Masern-Kindern bekommt sie. Bei 20 bis 30 Prozent der Kinder, die ihr nicht zum Opfer fallen, bleiben mehr oder minder schwere Dauerschäden am Gehirn zurück. In alten Lehrbüchern der Kinderheilkunde kann man noch nachlesen, dass im deutschen Kaiserreich in jedem Jahr etwa 1500 Kinder an den Folgen der Masern gestorben sind. Heute, im Zeitalter der Routine-Impfung, wo es allenfalls begrenzte lokale Epidemien gibt, sind solche tödlichen Fälle extrem selten. Das hat allerdings den Nebeneffekt, dass viele nicht mehr so recht wissen, wogegen die Vorbeugung sich überhaupt richtet. Es ist also ausgerechnet die gute Wirkung der Impfung, die sie in den Augen vieler verzichtbar erscheinen lässt. Von einer echten Impfmüdigkeit der Bevölkerung zu sprechen, dafür gibt es jedoch nach Ansicht von RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher heute keinen Grund. „Bei den Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass die Kinder im Allgemeinen geimpft sind.“ Allerdings gibt es regional große Unterschiede – und im statistischen Durchschnitt eine deutlich größere Impfskepsis bei Familien, deren Kinder in Montessori-Einrichtungen und Waldorfschulen gehen. In den Augen Rudolph Steiners waren Kinderkrankheiten eine Entwicklungshilfe für Körper und Geist. Migrantenfamilien folgen nach Auskunft der Experten meist dem Rat der Ärzte und lassen ihre Kinder impfen. Berlin liege in Sachen „Durchimpfungsrate“ insgesamt im Bundesdurchschnitt, sagt RKI-Epidemiologin Anette Siedler. Wie ein Sprecher der Berliner Gesundheitsverwaltung sagte, ist die Impfbereitschaft im Osten Berlins etwas höher als im Westen.

Vom ehrgeizigen Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) trennen Deutschland noch ein paar Prozentpunkte: Die WHO will die Masern, wie in den 70er Jahren schon die Pocken, auf unserer Erde sicherheitshalber ganz ausrotten, und das bis zum Jahr 2010. Dann würde die Impfung irgendwann überflüssig. Um das Ziel zu erreichen, ist es nach der Erfahrung der Experten aber nötig, dass 95 Prozent der Bevölkerung den Impfschutz haben.

Geimpft wird mit Viren, die zwar noch lebensfähig sind, aber im Labor so weit abgeschwächt wurden, dass man nicht mehr wirklich erkranken kann. Das Immunsystem wird durch diese Impfviren allerdings genauso aktiviert wie durch den „Wildtyp“ des Virus, den man sich in der Kita oder der Schule einfangen kann. Das heißt, es bilden sich spezifische Immunzellen und Antikörper, die bei einem erneuten Kontakt mit dem echten Virus die Abwehrarbeit übernehmen.

Die Viren, die jetzt allein in der Stadt Duisburg 191 Masern-Fälle verursachten, sind ersten Untersuchungen zufolge vom selben Stamm, der seit Beginn des Jahres in der Ukraine für zahlreiche Erkrankungen sorgt. Die Impfexperten des RKI interessieren sich jetzt dafür, ob die Erreger in Nordrhein-Westfalen auf besonders viele Ungeschützte trafen. „Wir sind gerade dabei, in einer betroffenen Duisburger Schule eine Befragung zum Impfstatus zu machen“, sagte Anette Siedler gestern dem Tagesspiegel. Ersten Informationen zufolge waren neun von zehn Erkrankten überhaupt nicht geimpft. Es ist aber auch recht wahrscheinlich, dass vor allem einige der Jugendlichen, die jetzt Masern bekamen, nur die erste der beiden empfohlenen Spritzen bekommen haben. Denn erst seit fünf Jahren empfiehlt die Ständige Impfkommission, beide Impfdosen kurz hintereinander zu geben. „Die einmalige Impfung schützt nicht völlig zuverlässig, deshalb sollte man die zweite unbedingt nachholen“, rät Anette Siedler. Wer noch nicht 18 ist, darf die Impfung als Kassenleistung in Anspruch nehmen, ältere Erwachsene haben die Krankheit meist bereits in ihrer Kindheit durchgemacht. Beides verleiht lebenslang einen hohen Schutz – man könnte also beruhigt auch in Gebiete reisen, wo die Masern gerade wieder aufgeflammt sind.

Adelheid Müller-Lissner

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