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Wer Bildung erworben hat, weiß nicht automatisch, was er damit anfangen soll. Das gilt nicht nur in der Türkei.

© Getty Images/iStockphoto

Einmal hingeschaut: Und die Beraterin zuckt mit den Schultern

Eigentlich sollen die Lotsenlehrer in der Türkei bei der Berufswahl helfen. Unser Autor Ahmet Refii Dener findet: Manche haben ihren Beruf verfehlt. Eine Kolumne.

Wisst ihr, wie die türkischen Jugendlichen in der Türkei ihre Berufswahl treffen? Ganz eigenartig. In den türkischen Schulen gibt es sogenannte Lotsenlehrer. Ich bin Gründungsmitglied des Vereins, der die Waldorf-Pädagogik in der Türkei einführte und heute die erste Waldorfschule in Alanya betreibt. Folglich bin ich in Bildungsfragen der Türkei involviert.

Um die Berufsberatung in der Türkei zu erleben, begleitete ich die Tochter eines Freundes zur Lotsenlehrerin. Sie ist eine sehr gescheite Schülerin, die nach dem Abschluss des Gymnasiums bei der im ganzen Land durchgeführten Aufnahmeprüfung zur Universität eine der höchsten Punktzahlen erreichte. Folglich standen ihr alle Türen weit offen.

Keinerlei Interessen? Das wird schwierig

Ich hatte sie vorher gefragt, welche Interessen sie mitbringt. „Eigentlich nichts. Ich gehe zum Beispiel gerne einkaufen“, sagte sie. Ich musste schlucken: Hohe Punktzahl für die Uni und keinerlei Interessen! Die Lotsenlehrerin schaute auf das amtliche Papier und sah die Punktzahl, die Selma erreicht hat und sagte: „Gratulation, du kannst selber entscheiden, was du studieren möchtest.“

„Was möchtest du denn werden?“ „Ich möchte mich beraten lassen. Ich gehe gerne einkaufen und schwimmen.“ „Nein, nicht dein Hobby, ich meinte berufsmäßig.“ Schulterzucken. „Wie ist es mit Architektin? Oder lieber Zahnärztin? Im türkisch-zypriotische Teil kannst du Zahnarzt studieren. Die Diplome von dort werden zwar nicht überall anerkannt, aber immerhin hast du dann einen Beruf“. „Weiß nicht!“ Die Lotsin drehte sich zu mir und fragte: „Was meinen Sie?“ „Ich wundere mich nur, wie sie vorgehen.“ „Wieso?“ „Das soll Berufsberatung sein? Eher ist das eine Kleideranprobe. Mal schauen, welches Kleid dir steht.“

Richterin unter Erdogan? Eine lustige Idee

Danach bohrte die Lotsenlehrerin tiefer. „Was ist mit Rechtsanwältin? Du kannst später auch Richterin werden.“ Richterin unter Erdogan? „Hören Sie mal, wie lange soll das noch so weitergehen? Geben Sie ihr am besten eine Liste mit Berufen und sie kreuzt etwas an!“ „Was ist mit Atom? Du kannst Atom studieren in Antalya“, sagte sie. „So ein Fach gibt es doch gar nicht, was erzählen sie da?“, sagte ich.

Ein Atom-Studium gibt es zwar nicht, aber eine Kernspaltung, die fand in dem Augenblick bei mir statt. Wir sind aufgestanden und gegangen. Was sie nun studiert? Richterin, nein, natürlich Jura. Da ihr Vater aber ein AKP-Mann ist, wird sie sicher von der Schule direkt ins Richterinnenamt gelangen.

Ahmet Refii Dener arbeitet als Türkei-Berater. 2017 ist ARDner, wie sich der Blogger (go2tr.de) nennt, nach Berlin gezogen. Sonntags ist seine Kolumne im Tagesspiegel zu lesen.

Ahmet Refii Dener

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