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Panorama: Er bezahlt mit dem Leben

Der Aum-Sektenführer Asahara ist wegen des Giftgasanschlags auf die Tokioter U-Bahn verurteilt worden

Asahara musste aufstehen, um sein Urteil zu hören. Zunächst verlas Richter Shoji Ogawa ausführlich die Begründung. Der 48-jährige Ex-Guru murmelte ab und zu etwas Unverständliches in seinen inzwischen gestutzten und leicht ergrauten Bart, um dann wieder abwesend in den Gerichtssaal des Tokioter Bezirksgerichts zu starren. Der Führer der Sekte „Aum Shinrikyo“ (Höchste Wahrheit) soll den Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn selbst geplant und angeordnet haben, befand der Richter. Das Verbrechen am 20. März 1995, bei dem 12 Menschen getötet und mehr als 5500 verletzt wurden, hatte die Japaner erschüttert. Mit den Passanten, die auf den U-Bahnsteigen unterhalb des Regierungsviertels zuckend und mit blutigem Schaum vor dem Mund zusammensackten, war auch der Mythos vom sicheren Polizeistaat Japan zu Fall gebracht. Asahara habe zwei Tage vor dem Massenmord mit einigen seiner Jünger in einem Auto gesessen und den Anschlag geplant, sagte der Richter.

Auch in allen anderen 12 Anklagepunkten sprach der Richter den Ex-Guru schuldig. Er schilderte, wie Jünger auf Anordnung Asaharas schon im November 1989 den damals 33-jährigen Anwalt Tsutsumi Sakamoto in seinem Bett erdrosselten, weil er ehemaligen Sektenmitgliedern geholfen hatte. Der Richter erinnerte daran, wie Sakamotos 29-jährige Frau Satoko vergeblich um das Leben ihres einjährigen Sohnes gefleht hatte, bevor Sektenmitglieder auch die beiden ermordeten. Richter Ogawa und seine drei Beisitzer befanden Asahara schuldig, bereits am 27. Juni 1994 einen Anschlag mit dem Nervengas verübt zu haben. Damals starben in den Bergen vor Nagano sieben Menschen. Insgesamt sei Asahara als „Drahtzieher“ an 27 Morden beteiligt gewesen, sagte der Richter. Die Liste ging stundenlang weiter. Die Zuhörer im Saal, unter denen auch Angehörige von Opfern mit versteinerten Minen saßen, hörten, wie die Sekte abtrünnige Mitglieder umbrachte, die zu fliehen versucht hatten, und sie in einer Art Mikrowellenherd verbrannten. Sie hörten, wie Fluchthelfer von Abtrünnigen mit dem Nervengas VX besprüht und so umgebracht wurden. Sie hörten, dass die Sekte in ihrem Hauptquartier am Fuße des Fujiyama ein ganzes Arsenal von Chemiewaffen gehortet hatte. „Der Angeklagte hatte den Plan ausgearbeitet, Nervengas in Tokio zu versprühen, die Hauptstadt zu zerstreuen und sein eigenes Königreich zu errichten“, sagte der Richter, „und er befahl den Bau einer Produktionsanlage für Sarin.“ Die Verbrechen Asaharas seien „gnadenlos, bösartig und brutal“ gewesen.

Nicht nur Individuen habe die Sekte auf Anordnung Asahars ermordet, sondern auch „wahllose Terrorakte“ verübt. Und dann kam der Moment, auf den soviele Familienangehörige der Opfer solange gewartet hatten. Obwohl Asahara in seiner Kindheit benachteiligt war, trage er „wegen der Anzahl, des Ausmaßes, der Absichten und der sozialen Auswirkungen der Verbrechen und wegen der Gefühle der Opfer“ eine schwere Verantwortung, sagte der Richter. Dann hielt er inne. Erst nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Ich verurteile den Angeklagten zum Tode.“

Kurz darauf wurde Asahara, mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto, abgeführt. Die Zuhörer verließen den Gerichtssaal, darunter auch Shizue Takahashi, die 57-jährige Witwe von Kazumasa Takahashi, der bei dem Giftgasanschlag ums Leben gekommen war. „Ich habe heute Morgen das Grab meines Mannes besucht. Seine Seele hat mich hierher begleitet, um das Urteil zu hören“, sagte Shizue.

Viele Fragen blieben unbeantwortet, trotz der Länge der Urteilsbegründung. Etwa warum die japanische Regierung bis heute keinen einzigen Yen an Entschädigung oder medizinischer Hilfe an die Familien der Opfer bezahlt hat. Oder warum die Polizei vor dem Giftgasnschlag kaum gegen die Sekte ermittelt hatte, obwohl sie oft vor ihr gewarnt worden war. Aber Asahara ist schuldig gesprochen worden. Er soll an den Galgen. Seine Anwälte haben Berufung eingelegt.

Henrik Bork[Tokio]

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