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Erdbebenopfer in Haiti: Selbst ist die Frau

Erdbebenopfer Marie Julie erhält eine Armprothese – nun ist es an ihr, den Weg zurück ins Leben zu finden.

Berlin - Endlich! Der Arm! Marie Julie Guerrier-Dumé kann es kaum glauben. Ein Jahr und drei Monate nachdem das schreckliche Erdbeben sie in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince bei der Arbeit im Universitätslabor begrub und ihren linken Arm zerquetschte, bekommt sie die ersehnte Prothese. Wie oft hat die 35-Jährige seither Ärzte und Pfleger danach gefragt. Mit drei großen Koffern sind die beiden deutschen Spezialisten Ulrich Müller und Dieter Storck nach Haiti gekommen, darin 70 Kilo Prothesenteile – für Marie Julie und sieben weitere junge Patienten. Nach den Stichwahlen in dem Karibikstaat erschien den Verantwortlichen die Lage wieder sicher genug, um Helfer zu schicken.

Es gibt nur wenige Spezialisten, die sich mit Armprothesen auskennen – und noch nicht viele Haitianer, die das Glück haben, eine zu bekommen. Aber rund 500 bis 600 Erdbebenopfer brauchten nach Expertenschätzungen eine. Bisher haben sich die Helfer in Haiti vor allem auf die sehr viel einfacher herzustellenden Beinprothesen konzentriert. Müller (37) und sein Kollege Storck (56) sind schon oft im Ausland unterwegs gewesen. Hier kommen sie bei der Arbeit ziemlich ins Schwitzen, schon in der Früh gegen neun ist es in dieser Jahreszeit rund 30 Grad heiß. Zwei Wochen tüfteln die beiden Techniker der auf Prothesen spezialisierten Otto-Bock-Stiftung in der Werkstatt der deutschen Hilfsorganisation Landsaid, die zusammen mit dem Haitianischen Roten Kreuz im größten Krankenhaus des Landes eingerichtet wurde. Mit von der Partie sind auch israelische Physiotherapeuten. Die Werkstatt ist „für haitianische Verhältnisse sehr gut ausgestattet“, sogar deutsche Maschinen stehen für die schwierigen Aufgaben zur Verfügung. Müller und Storck wollen in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts acht Patientinnen versorgen, aber sie müssen auch immer mal wieder Zwangspausen einlegen: Stromausfall.

Für Marie Julie haben sie einen Arm mit mechanischem Ellbogengelenk und einer Hand mitgebracht, und damit das Ganze gut aussieht, auch einen dunklen Kosmetikhandschuh. Betrieben wird der Arm durch ihre eigene Muskelkraft, vermittelt über Bandagenzüge, die Bewegungen des anderen Arms in Bewegungen einzelner Prothesenteile übertragen. „Die Länge ihres Stumpfs ist für die Anpassung sehr gut“, berichtet Ulrich Müller am Telefon. Drei Tage dauert das Anpassen, dann ist der neue Arm fertig.

Trotzdem sind alle sehr skeptisch. Marie Julie klingt enttäuscht. „Mir geht es so einigermaßen“, sagt sie und klagt: „Die Prothese ist so schwer.“ Das hören die Helfer oft, wenn die Opfer endlich ihre Prothese bekommen. Es war allen klar, alle haben auch Marie Julie immer gesagt: Wenn du den Arm hast, fängt die Arbeit erst an. Die Physiotherapie ist das allerwichtigste – und sie ist nicht in ein paar Tagen oder wenigen Wochen erledigt. Die Muskeln sind nach all der Zeit ohne linken Arm verhärtet, sie müssen wieder geschmeidig und trainiert werden. „Ja, das weiß ich doch“, sagt Marie Julie trotzig und lacht verlegen ins Handy. Doch es hört sich nicht so an, als sei sie überzeugt, dass sie sich jetzt anstrengen muss. Sie hat sich das alles einfacher vorgestellt.

Zwei israelische Therapeuten von Magen David Adom (MDA) kümmern sich im General Hospital um das Training der acht neuen Patienten mit ihren künstlichen Armen. „Schulter- und Rückenmuskulatur müssen auf Dauer trainiert werden, damit Marie Julie den Arm benutzen und mit der Hand greifen kann“, erläutert Prothesenspezialist Dieter Storck. Das aber sind Partien, die im täglichen Leben normalerweise nicht gefordert werden, und Marie Julie ist nicht darauf vorbereitet. Storck macht sich Sorgen, dass der stämmigen Marie Julie der Wille fehlt, das Training wirklich durchzuziehen. „Wir haben sie jetzt bestmöglich versorgt“, sagen Müller und Storck. Teil des Problems ist offenbar, dass einige ausländische Helfer Marie Julie von Superprothesen erzählt haben. Die wären aber für die Verhältnisse in Haiti zu aufwändig und reparaturanfällig. Niemand könnte dort elektrische Prothesen warten – und jede einzelne kostet mehrere zehntausend Euro.

Die internationalen Helfer versuchen eine beständige Versorgung zu etablieren. In der Werkstatt sind zwei Haitianer, sie sollen in Zusammenarbeit mit der Don-Bosco-Universität aus El Salvador in zweieinhalb Jahren als Orthopädietechniker ausgebildet werden. Landsaid-Geschäftsführer Dirk Growe will das Projekt in zwei, drei Jahren dann ganz an das Haitianische Rote Kreuz übergeben.

„Der Patient ist der Motor der Prothese“, versucht Dieter Storck einen Vergleich. „Marie Julie hat jetzt ein Auto und macht den Führerschein. Aber es nützt nichts, wenn sie sich nur ins Auto setzt und auf die Hupe drückt. Sie muss die Abläufe so lange üben, dass alles automatisch abläuft.“ Wenn Marie Julie sich jetzt nicht anstrengt, „sehe ich dunkle Wolken am Horizont“, sagt Storck. Denn: „Wenn der Motor nicht funktioniert, läuft die ganze Maschine nicht.“

Marie Julie versucht es noch einmal mit einer Ausflucht: „Der Weg zum General Hospital ist so weit“, quengelt sie. Ob nicht ein Therapeut zu ihr kommen könnte. Nein, das kann keiner. Die Techniker fühlen sich von der Frage fast persönlich getroffen. Landsaid-Koordinatorin Eva Suhren will dennoch nichts unversucht lassen. Sie hat Kontakt zum Hospital Espoir aufgenommen. Dort wurde Marie Julie nach dem Beben im Januar 2010 operiert und über Monate von Humedica-Medizinern aufgepäppelt. Das Krankenhaus der Hoffnung liegt näher an Marie Julies Zuhause. Alle hoffen, dass die Patientin dort die Therapie absolviert. – „Also gut, ich werde es versuchen“, verspricht Marie Julie. Nun hängt alles von ihr ab.

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