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Panorama: Eschede – der lange Weg zum Urteil

Vier Jahre nach dem größten Bahnunglück der Bundesrepublik werden am Mittwoch drei Ingenieure angeklagt

Von Gabriele Schulte, Celle

Kein Tag vergeht in Eschede, an dem nicht mehrere Menschen stumm vor dem steinernen Mahnmal stehen. Manchmal kommen eigens Busse, einige Leute legen Rosen nieder. Erschüttert lesen die Besucher am Rand des Heideortes im Kreis Celle die eingravierten n und Geburtstage von 101 Frauen, Männern und Kindern, die alle einen gemeinsamen Todestag haben: den 3. Juni 1998.

Sie starben, als der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf dem Weg nach Hamburg entgleiste und hier gegen den Pfeiler einer Brücke prallte. 105 weitere Menschen wurden verletzt. Mehr als vier Jahre später soll nun geklärt werden, wer an dem Unglück die Schuld trägt. Am Mittwoch beginnt in Celle der Prozess um das größte Bahnunglück, das die Bundesrepublik jemals erlebt hat.

Drei mögliche Schuldige hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg auf die Anklagebank gebracht: Ingenieure der Bahn und des Radreifen-Herstellerwerks müssen sich vor der auswärtigen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg verantworten. Die Ermittler werfen ihnen fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung vor. Sie stützen sich auf Gutachten, die einen Riss in einem gummigefederten Radreifen als Ursache ausmachten.

Der 67-jährige frühere Abteilungspräsident der Bahn, der 56-jährige Technische Bundesbahnoberamtsrat und der 54 Jahre alte Betriebsingenieur des Herstellerwerks hätten bei der Einführung dieser Radreifen im ICE-Betrieb darauf verzichtet, deren Tauglichkeit und Haltbarkeit ausreichend zu prüfen, heißt es in der dicken Anklageschrift.

Hinterbliebene als Nebenkläger

Ergänzt wird die Anklage von einer Reihe von Nebenklägern. Die Anwälte der „Selbsthilfegruppe Eschede“, Reiner Geulen und Remo Klinger aus Berlin, treten im Namen von zehn Hinterbliebenen auf. Ihnen sei vor allem an „Genugtuung“ und an der Feststellung der Schuldigen gelegen, sagt Klinger. „Das war ein Unglück, das früher oder später passieren musste.“

Die Bahn habe die Grenze willkürlich festgelegt, bis zu der die Radreifen abgefahren werden durften. Und dem Hauptgutachten vom Fraunhofer-Institut in Darmstadt sei zu entnehmen, dass der verunglückte ICE noch rund 100000 Kilometer mit dem Riss im Radreifen zurückgelegt habe, ohne dass dieser bemerkt wurde.

In einem Zivilprozess beim Landgericht Berlin versuchen Hinterbliebene von Opfern seit Februar ein Schmerzensgeld von jeweils mindestens 125000 Euro zu erstreiten. Die Bahn hat nach eigenen Angaben 45 Millionen Mark an Entschädigungsleistungen gezahlt, darunter 30000 Mark an die engsten Angehörigen jedes Toten.

Anwälte der Bahn haben die Angeklagten bei ihrer mehr als tausendseitigen Entgegnung auf die Anklageschrift unterstützt. Gummigefederte Räder seien für den Hochgeschwindigkeitsverkehr generell tauglich, heißt es darin. Spezielle Ultraschalluntersuchungen seien nicht nötig gewesen.

Der Unfallhergang ist unstrittig. Der ICE zerschellte bei Tempo 200 in Eschede, nachdem wenige Kilometer zuvor ein Radreifen an einem der vorderen Wagen gebrochen war. Er verhakte sich in einer Weiche, der Waggon entgleiste, raste gegen die Brücke und ließ alle nachfolgenden aufprallen.

Die 186 Seiten umfassende Anklageschrift schildert detailliert die Vorgänge bei der Einführung des neuen Radreifens. Danach hat es für die Ingenieure Hinweise gegeben, sich intensiver um die Festigkeit des neuen Radreifentyps zu kümmern. Dieser unterschied sich von herkömmlichen ICE-Rädern durch Federringe aus Gummi, die ein lautes Dröhnen bei hohem Tempo verhindern sollten.

Die Anklageschrift legt den Schluss nahe, dass die Lösung des Geräuschproblems, für das auch der Bahn-Vorstand auf Abhilfe drängte, die Einführung des neuen Radtyps ohne vorherigen Dauertest beschleunigt hat.

Der Prozess, bei dem allein die Staatsanwaltschaft Lüneburg 45 Zeugen benannt hat, wird zu einem Mammutverfahren, das bis ins nächste Jahr andauern kann. Das Gericht hat 32 Hinterbliebene und Überlebende des Unglücks als Nebenkläger zugelassen.

Der Sprecher der Hinterbliebenen der Opfer, Heinrich Löwen, sieht in den drei Angeklagten nur drei „Sündenböcke". Wesentlich mehr Menschen seien Schuld an dem Unglück, auch Verantwortliche aus der Vorstandsebene der Deutschen Bahn, sagte Löwen. (mit Reuters)

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