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Gesellschaft: Big Apple Orangen für

New York ist berühmt für seine trendigen und teuren Restaurants. Andererseits hat dort jeder achte Haushalt nicht genug Geld für Essen. 1 200 Suppenküchen und Märkte für Arme versuchen zu helfen

Die fünfjährige Anamaria drängt ihre Mutter mit dem Einkaufswagen zur Kasse. Denn hinter der Kasse steht das Regal mit den Leckereien. Am liebsten mag Anamaria die mit Konfitüre gefüllten Kekse. Aber die sind oft schon alle weg. Das süße Glück ist Anamaria trotzdem hold: Elena, die im Augenblick den Dienst versieht, hat speziell für sie eine Schachtel Erdbeerschnitten beiseite gelegt. Die wandert nun zusammen mit Reis, Eiern und einem gefrorenen Huhn in Mamas Einkaufstasche – wo sie sicher nicht lange unangetastet bleiben wird.

Dies ist kein gewöhnlicher Supermarkt. Nicht nur, weil er sich im Untergeschoss einer Kirche an New Yorks Upper West Side befindet und nirgendwo Sonderangebote für Häagen-Dazs-Eiscreme oder sechs mal 1,5 Literflaschen Coca-Cola locken. Vor allem wechselt hier kein Geld die Hände. Bei Elena wird mit farbigen Coupons bezahlt. Anamaria und ihre Mutter decken sich an diesem Donnerstagmorgen mit der Menge an Lebensmitteln ein, auf die sie gemäß eines ausgeklügelten Punktesystems des amerikanischen Gesundheitsministeriums Anspruch haben. Die zwei gehören zu den 1,4 Millionen New Yorkern, die laut Statistik „food insecure” sind. Das ist Behördensprache für „hungergefährdet”. Elena ist eine der 40 Freiwilligen, die in der „food pantry“, der Lebensmittelausgabe der West Side Campaign Against Hunger (WSCAH) täglich bis zu 300 dieser hungergefährdeten Menschen versorgen.

„Wir nennen die Leute mit Absicht ,Kunden‘“, sagt Stewart Desmond, der Leiter der WSCAH. Im Gegensatz zu anderen Food Pantrys händigt diese den Leuten keine vorsortierten Lebensmittelpakete aus. Man hat die Wahl, zwischen Dosenmais und Dosenspargel etwa, zwischen Bohnen und Linsen. Selbst frisches Gemüse und Obst erhält man hier, was in karitativen Lebensmittelausgaben noch immer eine Seltenheit darstellt.

Gerade beäugt ein älterer Herr misstrauisch einen Berg Grünzeug mit orangen Stängeln. „Was ist das?“ fragt er. „Mangold“, antwortet eine Helferin, die Brot in ein Gestell räumt. „Schmeckt hervorragend sautiert mit Zwiebeln und ein wenig Schinken“, schaltet sich jemand anders ein. „Hat Koch Mark uns neulich gezeigt.“ Die Frau spricht von einem der Kochkurse, die die WSCAH anbietet.

Denn viele der WSCAH-Kunden leben in sogenannten Lebensmittelwüsten und kennen Frischprodukte höchstens in Form des schlaffen Eisbergsalats in einem Big Mac. Da sind Rezepte für biologische Rote Bete oder Topinambur durchaus willkommen. „Wir wollen die Leute nicht nur mit Essen versorgen, sondern ihnen zeigen, wie sie sich damit gesund ernähren“, so Stewart Desmond.

Fehlernährung ist eine Folge der Armut, so wie Hunger eine Folge davon ist. Fünf Spicy Chicken Nuggets von Wendy’s für 99 Cents sind nun mal billiger und füllender als ein Bund Bio-Karotten von einem Supermarkt, den es in New Yorks ärmsten Gegenden ohnehin nicht gibt. Für Großverteiler lohnt sich das Geschäft dort nicht. Die Tatsache, dass man in den Straßen New Yorks mehr Übergewichtige sieht als Leute, die an die Hungeropfer aus Afrika und Asien erinnern, macht das Hungerproblem nur noch heimtückischer. Gesundheit wird deshalb bei der WSCAH großgeschrieben. Gesundheit – und Respekt. Niemand soll das Gefühl haben, um sein Essen betteln zu müssen. Mit einer Wal-Mart-Filiale wird die Food Pantry unter der Church of St. Paul & St. Andrew kaum jemand verwechseln. Ein wenig Supermarktatmosphäre herrscht trotzdem. Das findet jedenfalls Anamaria. Schließlich sind auch in den Geschäften, in denen die Eltern ihrer Freunde einkaufen, die wahren Köstlichkeiten immer kurz vor dem Ausgang platziert.

Joel Berg ist seit 2001 Direktor der New York City Coalition Against Hunger (NYCCAH), der Dachorganisation von New Yorks 1200 Food Pantrys und Suppenküchen. Das enge Büro der NYCCAH liegt ironischerweise in unmittelbarer Nähe der Börse an der Wall Street. Mit zwölf teils von der Stadt, teils von privaten Institutionen bezahlten Mitarbeitern startet Berg von hier aus Initiativen für verschiedene Wohlfahrtsverbände. „Wir leben in einer Stadt mit 57 Milliardären, hunderten von Millionären und dem reichsten Bürgermeister der USA“, sagt Berg. „Dass in New York jeder achte Haushalt hungergefährdet ist, ist ein Skandal.“

Mit dem Bild des Obdachlosen, der an der Fifth Avenue Mülltonnen nach Essbarem durchwühlt, werden viele New-York-Besucher vertraut sein. Doch laut Berg sind vor allem Familien mit Kindern von jener Sorte Armut betroffen, die zu Fragen führt wie: Milch oder Medikamente? Miete oder mehr als eine Mahlzeit pro Tag?

In Großstädten wie New York fallen besonders Nicht-Weiße in die Kategorie der Hungergefährdeten – Immigranten und Schwarze. In ländlichen Gebieten sind es überwiegend Weiße. Arbeitslosigkeit ist nur ein Grund dafür. Viele Leute arbeiten, manche haben sogar zwei oder drei Jobs, verdienen damit aber nicht das Existenzminimum. Joel Berg: „Wir müssen den Menschen einen Mindestlohn garantieren, der ihnen das Überleben ermöglicht.“ Und das sei Aufgabe des Staates. Zweitens gehe es darum, das soziale Netz so weit auszubauen, dass die Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, diese auch umstandslos erhalten. Berg betont das Wort „umstandslos“. Das bürokratische Dickicht, das staatliche Hilfsprogramme umrankt, ist in den USA so undurchschaubar, dass die meisten resignieren. Noch mehr Leute sind sich ihres Anrechts auf Hilfe nicht einmal bewusst.

Mit einem Ausbau des Sozialsystems ist in nächster Zeit allerdings nicht zu rechnen. Im Gegenteil. Nachdem das US-Parlament jüngst unter showdownartigen Bedingungen das letzte Sparpaket verabschiedet hat, sind massive Kürzungen im Sozialbereich garantiert. 127 Milliarden will der von den Republikanern kontrollierte Kongress allein beim „food stamp program“ einsparen. Damit werden Hunderttausende von Amerikanern in Not eine monatliche Unterstützung beim Kauf von Lebensmitteln verlieren.

In den USA ist die private Wohlfahrt auch ein Geschäft. „Es begann in den 80er Jahren“, sagt Joel Berg. „Ronald Reagan hat das Land in den Bankrott getrieben und die soziale Verantwortung des Staates für seine Bürger mit ,Kommunismus‘ gleichgesetzt.“ Seither wetteifern karitative Organisationen darum, mal hier, mal dort Bedürftige zu beglücken. Das ist für die Geldgeber stets mit massiven Steuervorteilen und für die Organisationen mit guter Presse verbunden. Joel Berg wird heftig, während er das System beschreibt, das in seinen Augen zutiefst korrumpiert ist: „Wir überlassen das Betreiben unserer Polizei und unserer Feuerwehr nicht wohlfährtigen Einrichtungen“, sagt er. „Weshalb soll das anders sein, wenn es um die Rechte und das Wohlergehen unserer Mitbürger geht?“

Manche von Joel Bergs Mitstreitern plädieren für die sofortige Abschaffung von privaten Wohlfahrtsorganisationen. In der Hoffnung, dass die Menschen sich dann wehren und endlich soziale Gerechtigkeit fordern. Berg glaubt nicht, dass das funktionieren würde. Amerika hat keine Tradition des Klassenkampfes.

Die Zahl der Menschen, die New Yorks Suppenküchen und Food Pantrys aufsuchen, hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt. Viele der Notstellen mussten Leute abweisen. „Ohne Obamas Wirtschaftspaket hätte sich die Rezession noch drastischer ausgewirkt“, sagt Joel Berg und steht auf. Er muss zu einer Konferenz, in der über die vereinfachte Zulassung von Früchte- und Gemüseständen in einer abgelegenen Ecke der Bronx debattiert werden soll.

Etwa zur selben Zeit rührt Mark d’Alessandro in der Küche der West Side Campaign Against Hunger in einem riesigen Topf Fischsuppe. Über Mittag schließt die WSCAH für eine Stunde, und Küchenchef d’Alessandro kocht für die Angestellten und Freiwilligen. Die Zutaten für das Menü stammen aus dem Vorrat der Food Pantry. Elena, die am Vormittag die kleine Anamaria in den Kekshimmel gehoben hat, schwärmt von der Torte, mit der ihre Tochter sie an ihrem Geburtstag überraschte. „Da waren Zucchini drin“, sagt Elena. Zucchini von der WSCAH, nach einem Rezept von der WSCAH. Gesundheit und Respekt – mit Zuckerguss und Kerzchen: Das ist doch ein Anfang.

Sacha Verna

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