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Flasche Chablis.

© mauritius images

Chablis: Abgang Langer

Chablis war der Weißwein der Gourmets – er begleitete Hummer und Austern. Dann verkam er zur Ramschware. Besuch in einem Krisengebiet

Joe bettelt am Venice Beach. Mal braucht er fünf Minuten, mal muss der Obdachlose drei Stunden lang schnorren, bis er sein immer gleiches Ziel erreicht hat: Geld für seine Tagesration, zwei Flaschen Chablis. Joe ist besessen vom Chablis. Schon im Kindesalter war er von der Ehrfurcht fasziniert, die seine Eltern allein beim Erwähnen des zauberhaften Namens zeigten: Chablis, Chablis ... Mit 13 Jahren bediente sich Joe täglich mit einigen Schlucken des legendären Weißweins aus den elterlichen Beständen. Die Anekdote stammt aus James Freys 2008 gefeiertem L.-A.-Roman „Strahlend schöner Morgen“ und zeigt: Dieser Wein ist Mythos und Marke zugleich.

Chablis – ein Name wie Donnerhall?

Das war einmal. Sein Ruf ist dahin, die Präsenz des Chablis ist unter die Wahrnehmungsgrenze gesackt. Chablis war in den 70er und 80er Jahren nicht nur der Inbegriff des französischen Weißweins, sondern des trockenen Weißweins schlechthin – weltweit! Exklusiv, kostbar und überall präsent war er.

Damals begann die Nouvelle Cuisine sämtliche kulinarische Traditionen zu revolutionieren. Ihr Triumph war das Glück des Chablis, denn zu den leichten Soßen und delikaten Zubereitungen der Kochrebellen passte der schlanke Chablis von allen ernst zu nehmenden Weißweinen am besten. Er war Pflichtgetränk zu Austern. Steinbutt und Hummer spülten Gourmets lässig mit Chablis hinunter. Wer Chablis bestellte, galt automatisch als connaisseur.

Das Städtchen Chablis liegt unweit von Auxerre (Loire). Es ist der 22. März 2010. Der lange Winter hat sich verabschiedet. An der über 100 Kilometer südlich gelegenen Kernzone des Burgunds, der Côte d’Or, ist es bereits einige Grade wärmer. Hunderte Weinexperten aus aller Welt drängen in die Verkostungsräume des „Maison des Vins“. Sie alle wollen den neuen Jahrgang probieren: Sommeliers, Importeure, Weinhändler und Restaurantbesitzer. 80 Erzeuger werben um die Gunst der Einkäufer. Wie in den Vorjahren bleibt nach der Verkostung der Eindruck: Immer noch gibt es viele mittelmäßige oder schlechte Weine aus dem berühmten Anbaugebiet.

Einer der sehr guten Erzeuger ist Jean-Pierre Grossot. Nach der Großverkostung trifft man sich zum Probieren in seinem Keller in Fleys, einen Steinwurf von Chablis entfernt. Mit gespanntem Lächeln füllt er die Gläser. Eigentlich erwartet er nichts als Zufriedenheit bei den anwesenden Profis, denn er gilt als Gralshüter des klassischen Chablis. Der blassgelbe Wein mit grünlichen Reflexen funkelt hell. Er duftet zart nach Äpfeln, Lindenblüten und Haselnüssen. Ein Hauch von frischer, salziger Meeresluft schwebt darüber. Knochentrocken der Geschmack, belebende Säure, gehaltvoll. Wären alle Weine der Gegend so, müsste Grossot nicht so häufig als Vertreter seines Dorfes unangenehme Diskussionen im Winzerverband von Chablis führen.

Sie drehen sich seit Jahren um die gleichen Themen: sinkende Preise, schwindsüchtige Verkaufszahlen und das Verschwinden des Chablis aus dem öffentlichen Interesse. „Es sind zu viele mittelmäßige Chablis auf dem Markt“, sagt Grossot. Dies ist für französische Verhältnisse eine geradezu revolutionäre Haltung; denn meist entschuldigen französische Winzer offensichtliche Qualitätsmängel wie muffige Aromen mit traditionellen Methoden und dem speziellen Terroir. Anders gesagt: Sie sind überzeugt, den besten Wein der Welt zu produzieren, und der Verbraucher ist zu blöd, dies zu erkennen.

Welche wunderbaren Weine in Chablis möglich sind, beweist die Domaine Raveneau. Seit Jahrzehnten ist das Kultweingut unbestritten die Nummer eins. Seine raren Abfüllungen zählen zu den gesuchtesten Weißweinen der Welt. Vielleicht 15 vorbildliche Winzer produzieren ebenfalls Erstklassiges, darunter Grossot und Vincent Dauvissat.

Die Malaise dieses Anbaugebietes hat klare Ursachen: Der Erfolg vergangener Jahrzehnte, und die unerschöpfliche Nachfrage machten die Weinbauern bequem. Danach begann das große Vergessen, der lange Abgang des Chablis aus dem Bewusstsein der Weintrinker.

Die Chabliswinzer selbst hätten mit einer Qualitätsoffensive reagieren können. Stattdessen setzten sie auf die Erzeugung von immer billigeren Weinen. Automatische Erntemaschinen sind häufiger in den Weinbergen zu sehen als menschliche Lesehelfer. Der Preiskampf wurde auf breiter Front in den Supermärkten ausgetragen – der Wein massenweise verramscht.

Ein weiterer kapitaler Fehler war die Annahme, man könne stets größere Mengen von dem Wein absetzen, der wie weißer Burgunder aus 100 Prozent Chardonnay-Trauben gekeltert wird: Die Rebflächen wurden in den 80er und Anfang der 90er Jahre stark erweitert. Nur bei der Auswahl der Böden hatte man sich nicht auf Kompromisse eingelassen. Es wurde genau beachtet, dass künftige Weinberge nur auf dem typischen Kimmeridge-Kalk genehmigt wurden.

Chablis ist ein Grenzstandort für Reben. Es liegt weit nördlich und hat ein kontinental geprägtes Klima. Lange und kalte Winter, kurze und heiße Sommer. Dazu kommen gefürchtete Spätfröste, die hier ungewöhnlich häufig auftreten. Andererseits: Wenn Boden, Topografie, Wasserversorgung, Rebsorte und Kleinklima perfekt stimmen, ist an solchen Orten das ganz Besondere möglich. Denn die Rebe gibt dort, wo sie gerade noch mit Mühe reife Trauben produzieren kann, quasi unter Megastress, oft die feinsten Trauben. Führen Reben eine Existenz im Überfluss, werden die Weine oft banal.

Heute stehen hier knapp 4900 Hektar im Ertrag. Vor etwa 50 Jahren waren gerade noch 500 Hektar bestockt – absoluter Tiefstand in der Geschichte von Chablis. Die Spätfröste waren ein wichtiger Grund für das Auflassen vieler tausend Hektar Rebland. Nur in den allerbesten Lagen überlebte damals der Weinbau, nur dort waren langfristig sichere Erträge möglich. Doch selbst in den Spitzenlagen drohen die Spätfröste beinahe alljährlich. Zwar sind Reben winters sehr hart im Nehmen, werden aber sehr empfindlich, sobald sie im Frühjahr ausgetrieben haben. Eine einzige Frostnacht im April oder Mai, wie sie in Chablis außergewöhnlich oft vorkommt, kann eine ganze Ernte vernichten.

Insbesondere nach den katastrophalen Kälteeinbrüchen im Frühjahr 1957 wurden massenhaft Öfen in den Weinbergen installiert. Sie wirken gleich doppelt: Zum einen heizen sie ihre Umgebung direkt, zum anderen schirmt ihre Rauchwolke die Weinberge gegen die Strahlungskälte ab. Besonders raffiniert ist der in den 70er Jahren eingeführte Frostschutz per Beregnung. Dank dieser Technik überleben die zarten Knospen und Triebe ausgerechnet unter einer dicken Eisschicht: Wasser gibt beim Gefrieren geringe Wärme ab, die zum Schutz der Knospen vollkommen ausreicht.

Zurück zu Joe, dem Landstreicher und Chablis-Afficionado. Sogar ihm ist klar, dass es neben französischem Chablis auch kalifornischen gibt, der aber meist scheußlich schmeckt. Auch das ist ein Preis des Ruhms, den noch andere bekannte Weingegenden wie die Champagne, Bordeaux, Port und Sherry zu zahlen hatten: Berühmte Weine werden gerne in weniger guten Anbaugebieten imitiert, weil sie dank des guten Namens leicht zu verkaufen sind. Im Falle des Chablis gab es zahllose Imitate aus Australien, Argentinien, Chile und aus den USA. Seit 2008 ist jedoch Schluss mit den falschen Chablis. Das Markenschutzrechtabkommen zwischen den USA und der EU verbietet den Gebrauch der berühmten Herkunftsbezeichnungen für die Nachahmer.

Und zum Glück gibt es noch die großartigen Originale. Weine von Jean-Pierre Grossot garantieren auch künftig Sätze wie jenen aus Theodor Fontanes „Irrungen und Wirrungen“: „Der Hummer war noch nicht gekommen, aber der Chablis stand schon da.“

Unser Autor zählt zu den besten Sommeliers Europas, er führt eine Weinhandlung in Stuttgart und meint:

Ein guter Chablis kostet mindestens 12 Euro, Raritäten von Raveneau und Dauvissat ab 35 Euro aufwärts. In Berlin würde er Chablis kaufen bei: Weinhandlung Hardy, Thielallee 29, Tel: 831 25 98 (Wein von Droin); und La Vinothèque du Sommelier, Westfälische Str. 55 , Tel: 890 958 06 (Weine von Dauvissat und Raveneau).

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